Es gibt da ein Gefühl, für das ich sehr viel Mitgefühl empfinde. Die Angst. Sie muss für vieles herhalten, was in Unternehmen schief läuft. Unzählige Artikel wurden darüber geschrieben, warum es so wichtig sei, die Angst zu besiegen, zu überwinden oder abzuschaffen. Ich habe noch keinen gefunden, der glaubhaft beschreibt, wie das gehen soll: die Angst besiegen, sie überwinden oder sie gar abzuschaffen. Und dafür gibt es einen simplen Grund: Wir können ein Gefühl nicht einfach besiegen, überwinden oder abschaffen. Aber wir können lernen, es zu akzeptieren, seine Qualitäten zu nutzen und mit Angst erfolgreich zu werden.
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Angst ist allgemein unbeliebt
Anne M. Schüller schreibt im Internet-Netzwerk linkedin über Angst. Die Managementdenkerin, Keynote-Speaker in und Autorin erntet viel Zuspruch für ihren Artikel. Das ist kaum verwunderlich, denn Angst ist allgemein unbeliebt. Vor allem in der Business-Welt. Und vor dort allem in den oberen Etagen. Ich kenne nur wenige Manager, die mutig und offen genug sind, um über ihre Ängste zu sprechen. Und noch weniger, die wissen, wie sie mit Angst erfolgreich sein können.
Die Angst muss verschwinden?
Anne M. Schüller schreibt, die Angst müsse aus den Unternehmen verschwinden, weil sie allzu oft Innovationen verhindere. Warum? Weil Angst das Denken blockiere, Kreativität verhindere und Menschen letztlich dumm mache. Das klingt zunächst sehr einleuchtend. Ich kenne genug Unternehmen, in denen Vorgesetzte „mit Angst regieren“, in denen Mitarbeiter auf Tauchstation gehen und ihre Ideen, sofern sie sich erlauben, welche zu entwickeln lieber für sich behalten.
In die Sackgasse manövriert
Ich stimme Anne M. Schüller zu, wenn sie sagt, all das behindere den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens und schade gleichzeitig den dort arbeitenden Menschen. Nur dass die Angst daran schuld sein soll, ist meines Erachtens eine gedankliche Verknüpfung, die in eine Sackgasse führt. Sie hilft mir rein gar nichts, solange ich nicht weiß, wie ich Angst besiegen, überwinden oder gar abschaffen soll. Die Kunst ist, nicht ohne, sondern mit Angst erfolgreich zu sein.
Angst lässt sich nicht ausknipsen
Wie also knipse ich sie aus, die Angst? Die Antwort auf diese Frage bleibt Anne M. Schüller in ihrem interessanten Artikel schuldig. Und auch dafür gibt es einen Grund: Sie kann nicht wissen, wie man Angst ausknipst, weil das schlicht und ergreifend nicht möglich ist. Aber wir können lernen, was wir mit ihr anstellen und mit Angst erfolgreich werden.
Wie Angst missbraucht wird
„Angst wird sehr gerne verbreitet, denn ängstliche Menschen lassen sich leichter beherrschen. Angst betoniert das Gestrige, beutet aus, spinnt Lügengewebe und hält rüde Obrigkeiten an der Macht. Sie macht die Menschen für Populisten und Bauernfänger empfänglich“, schreibt Anne M. Schüller. Auch da stimme ich zu, allerdings mit einer Einschränkung: Angst lässt sich nur missbrauchen, wenn Menschen
- Ihre Angst verdrängen und sich ihrer nicht bewusst sind
- überzeugt sind, dass Angst negativ sei und
- keinen anderen Umgang mit Angst kennen, als den von Anne M. Schüller beschriebenen Weg: mich lähmen zulassen, das logische Denken auszuschalten, mich klein zu machen etc.
Mit Angst erfolgreich mutig werden
Es hilft unterdrückten Mitarbeitern, die sich von Angst lähmen lassen, rein gar nichts, wenn ich ihnen sage, sie müssten ihre Angst - auf welche Weise auch immer - verschwinden lassen. Das führt allenfalls dazu, dass sie ihre Angst verdrängen. Was es in Unternehmen dagegen braucht, sind Führungskräfte und Mitarbeiter, die sich für den Mut entscheiden, Dinge zu tun, die ihnen Angst machen: Vorschläge machen, Ideen entwickeln, Missstände ansprechen, Feedback geben und nehmen, Neues wagen. Das alles ist riskant, keine Frage. Wer mit Angst erfolgreich sein will, braucht Mut zum Scheitern.
Wie Angst Innovation beflügelt
Solange ich keinen anderen Umgang mit Angst kenne, als den von Anne M. Schüller beschriebenen, stimmt die Aussage „Angst ist der größte Killer von Leistung und Fortschritt“. Aber nur dann. Die Aussage stimmt nur innerhalb des vorgegebenen Denksystems und ist leicht zu widerlegen. Zum Beispiel mit Archimedes von Syrakus.
Beispiel 1: Archimedes
Der unbestritten geniale Mathematiker und Ingenieur hat in seiner damals griechischen Heimatstadt Syrakus auf Sizilien völlig neue Wurfmaschinen entwickelt. Warum? Weil die Römer im Anmarsch waren. Was hat der gute Archimedes wohl gefühlt, bei dem Gedanken, dass die bis an die Zähne bewaffnete römische Armee auf seine Heimatstadt zu segelte? Ich würde sagen, er hat sich zumindest Sorgen gemacht. Und ich bin überzeugt, dass ihn die Angst vor den Römern ganz schön beflügelt hat beim Tüfteln.
Archimedes hat sich ganz sicher nicht von seiner Angst bremsen lassen, keine Frage. Aber er hat sie verantwortlich und erwachsen genutzt, um das zu tun, was anstand: seine Heimat zu verteidigen. Beim Entwickeln seiner Waffen, war Archimedes mit Angst erfolgreich.
Beispiel 2: Ein Wissenschaftler
Anderes Beispiel: Nehmen wir einen Wissenschaftler, der einen Impfstoff entwickeln will. Was treibt ihn an? Die Sorge um die vielen Menschenleben, die er damit vor Krankheit und Tod bewahren kann? Vielleicht sogar die Sorge um seine Liebsten? Was, wenn nicht die Angst? Und wenn eben dieser Wissenschaftler, seinen neu entwickelten Impfstoff an sich selbst testen will? Dann hoffe ich für ihn, dass er Angst genug hat, um sehr vorsichtig zu sein. Denn wenn er seinen Impfstoff angstfrei zusammenmischt und dosiert, fehlt ihm die nötige Achtsamkeit, um sich vor einem möglicherweise qualvollen Tod zu schützen. Mit Angst erfolgreich zu arbeiten, kann durchaus lebenswichtig sein.
Beispiel 3: Kolumbus & Co.
Viele Menschen bewundern die großen Entdecker von einst. Ich auch. Wie Christoph Kolumbus einfach nach Westen zu segeln, ohne zu wissen, ob und wo er jemals ankommen wird - das ist mutig. Soweit ich weiß, wollte weder der mutige Kolumbus noch sonst irgendein Seefahrer je auf den Mann im Ausguck verzichten. Warum wohl? Weil kein Kapitän will, dass sein Schiff mit Mann und Maus über den - damals vermuteten - Rand der Welt stürzt oder von gefährliche Klippen aufgerissen wird. Die Abwesenheit von Angst ist nicht Mut, sondern Fahrlässigkeit.
Mit Angst erfolgreich Großes tun
Kurzum: Menschen sind sehr wohl in der Lage, unter Druck bzw. mit Angst Großtaten zu vollbringen. Sie können durchaus mit Angst erfolgreich sein. Wenn sie in der Lage sind, ihre Angst zu akzeptieren und nicht versuchen, sie zu verdrängen. Denn genau das eröffnet mir eine Möglichkeit, die ich sonst nicht habe. Ich kann mir eine simple Frage stellen: Entscheide ich selbst oder entscheidet die Angst für mich? Diese Möglichkeit fehlt mir, wenn ich meine Angst ins Unbewusste verdränge. Dann entscheidet die Angst für mich und führt mich möglicherweise in genau jene Zustände, die Anne M. Schüller so treffend beschreibt: Aggression, Blockade, Blackout.
Ich nutze meine Angst
Dieses Phänomen als Automatismus zu beschreiben, halte ich für gut gemeint, aber in der Wirkung für fahrlässig. Die Behauptung, Angst sei negativ und vermeidbar negiert die Möglichkeit, einen bewussten Umgang mit ihr zu trainieren: Akzeptanz und bewusste Entscheidung. Liebe NLP’ler und sonstige Angstleugner: Lasst mir meine Angst! Ich habe sie schätzen gelernt und nutze sie so oft ich kann. Ich bin lieber mit Angst erfolgreich als ohne leichtsinnig und fahrlässig.
Angst macht kreativ und spontan
Zum Beispiel in der Musik. Ich bin selbst Musiker und liebe mein Lampenfieber. Die Aufregung, sprich: meine Angst vor dem Auftritt, macht mich lebendig, achtsam und sehr kreativ. Ich weiß nicht, ob der Auftritt ein Erfolg wird, ob mein oft improvisiertes Gitarrenspiel mich und andere Menschen mitreißen wird. Diese Unsicherheit macht mir Angst, und ich genieße sie. Gewissheit wäre langweilig und Routine. Die Ungewissheit und der Mut, mich ihr und der Angst zu stellen, führt mich hin und wieder in Zustände spontaner Kreativität, die mich selbst überraschen. Routine kann das nicht.
Mick Jaggers Lampenfieber
Mick Jagger hat in einem Interview im Mai 2018 erklärt, dass er vor zumindest vor dem ersten Auftritt einer Tournee Angst hat. Immer noch. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Bühnenerfahrung. Und er sprach über seine Rituale, die ihm dabei helfen, mit seiner Angst so umzugehen, dass Mich Jagger auf der Bühne so agiert, wie es das Publikum von ihm gewohnt ist. Bravo, Mick! Ohne deine Angst wären die Auftritte der Stones nicht halb so gut. Angst verhindert Kreativität? Das ist Quatsch. Sie ist eine Voraussetzung dafür, mutig und kreativ zu sein.
Mit Angst erfolgreich in der Arbeit
In meiner Arbeit als Trainer geht es mir nicht anders. Vor jedem Training fühle ich Angst. Ich könnte sie auch als Lampenfieber, Aufregung oder Respekt bezeichnen. Ich nenne sie lieber beim Namen: Angst. Schließlich weiß ich vorher nie, wie meine Teilnehmer auf mich und meine Inhalte reagieren. Jedes Training kann schiefgehen. Bislang ist das aber nur ein einziges Mal geschehen: als ich mich auf Routine verließ und folglich keine Angst spürte.
Angst ist für mich ein gewaltiges Stimulans. Sie macht mich lebendig, achtsam, vorsichtig, spontan, manchmal auch witzig und immens kreativ. Weil ich mich dafür entscheide, dem Neuen, der Innovation, dem Ungewissen mit Mut zu begegnen. Und: Wer daran zweifelt, dass Angst sogar Spaß machen kann, sollte Menschen in Achterbahnen beobachten.
Warum gute Manager Angst fühlen
Managern geht es oft nicht anders. Schlaue Unternehmen trainieren sie darin, auf plötzlich eintretende Herausforderungen intuitiv und spontan zu reagieren. Mit der nötigen Achtsamkeit, die sich aus der Angst ergibt. Aber auch mit dem Mut, Fehler zu riskieren. Situationen, die schnelles Reagieren erfordern, gab es nicht nur in der Urzeit. Sie werden gerade in der sich immer schneller drehenden Wirtschaftswelt immer häufiger. Alles was es braucht, ist Mut, um mit Angst erfolgreich zu sein.
Dumm? So ein Unfug
Und das Angst dumm macht, ist – pardon – schlichtweg Unfug. Ich habe zum Beispiel Angst davor, dass Artikel, die Angst dämonisieren, Menschen dazu bringen, ihre Ängste noch mehr zu leugnen. Genau diese Angst führt mich zum Schreiben und lässt meine Finger über die Tasten fliegen. Ich spüre keine geminderte Kreativität, sondern Adrenalin in meinem Körper. Dass das meine Synapsen verkleben soll, ist mir ganz neu. Ich bin beim Schreiben kaum zu bremsen.
Ohne Angst kein Mut
Wenn ich länger drüber nachdenke, erkenne ich in der Behauptung „Angst macht dumm“ sogar eine Beleidigung. Liebe Anne M. Schüller, Menschen, die ihre Angst fühlen, sind alles andere als dumm. Mein fünfjähriger Enkel weiß das. Er nennt seine Angst beim Namen und kennt bislang keinen Grund, warum er verleugnen sollte, was er fühlt. Er liebt es mutig zu sein, und er weiß, dass es ohne Angst keinen Mut gibt. Ich wünsche ihm von Herzen, dass das so bleibt. Er darf mit Angst erfolgreich sein.
Vom Opfer zur Verantwortung
Wir Menschen sind fühlende Wesen. Unser Leben ist voll von Anlässen, die körperliche Regungen auslösen: Gefühle wie Freude, Ärger, Trauer und eben Angst. Daran ist nichts schlecht. Es ist einfach nur natürlich. Ob und wie wir damit umgehen, liegt in unserer Hand. Das Bewusstsein darüber unterscheidet Opfer im Sinne der Transaktionsanalyse von verantwortlich handelnden Menschen.
Wie Angst entsteht
Angst entsteht, wenn unsere Sinne einen Reiz wahrnehmen, den unser System als gefährlich einstuft. Dann werden in der Tat Botenstoffe ausgesandt, die uns hellwach, aufmerksam und nötigenfalls abwehrbereit machen. Ich kann darin keinen Nachteil erkennen. Angst ist großartig. Ob wir Menschen Großartiges leisten – in der Wirtschaft, in der Kunst oder im Umgang mit anderen Menschen – entscheidet sich daran, ob wir bereit sind, bewusst und verantwortlich mit unserer Angst umzugehen.
Die Mär von der Sicherheit
Das Leben ist per se unsicher. Daran ändert unser Streben nach Sicherheit rein gar nichts. Wer das weiß und die damit verbundene Angst akzeptiert, ist nur sehr schwer zu kontrollieren. Das einzig sichere im Leben ist ohnehin, dass wir alle sterben werden. Irgendwann. Davor darf man Angst haben. Das lähmt kein bisschen. Vielmehr hilft es dabei, das Leben zu schätzen und einen Beitrag dafür zu leisten, dass es besser wird. Und das gilt insbesondere auch für Führungskräfte und Mitarbeiter.
Danke dafür, liebe Angst.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2018