Rückzug – ab ins Schneckenhaus

Die Ausgangslage

Wenn sie Gärtner sind, kennen Sie das: Ihre natürlichen Feinde sind – die Schnecken. Und da gibt es zweierlei Sorten. Die einen stören Sie vermutlich gar nicht. Vielleicht freuen Sie sich ja sogar, wenn sie sie im Garten sehen, das sind die Weinbergschnecken mit ihrem schönen, schneckenartigen Schneckenhaus. Die anderen sind die, die die meisten von uns eher als eklig empfinden: das sind die Nacktschnecken. Ja, genau die, die Ihren Salat fressen und die sogar eingefleischte Vegetarier dazu bringen, mit der Schere grausame Rache zu üben und ihren Salat zu verteidigen.

Was hat das jetzt mit Azubis zu tun? Gar nicht mal so wenig. Um die Weinbergschnecken in Ihrem Betrieb geht es heute. Das sind die Azubis, die nicht überall auffallen, überall laut geben, sich permanent zeigen müssen, und von sich reden machen. Das ist zunächst einmal sehr angenehm, weil wir davon ausgehen: Um die, die nicht auffallen, müssen wir uns nicht kümmern. Und tatsächlich gibt es Menschen, die nicht auffallen, um die wir uns nicht kümmern müssen. Zum Beispiel Michael.

Stille Schaffer

Michael ist das, was wir im Südwesten einen stillen Schaffer nennen. Das heißt, Michael kommt so gut wie immer morgens pünktlich, er macht seinen Job, er verursacht keinen Ärger, spricht nicht mit vielen, er zeigt sich auch nicht, er ist auch nicht der erste oder zweite, der sich meldet, wenn es Aufgaben zu verteilen gibt. Michael ist eigentlich

Wer im Schneckenhaus ist, will dort auch bleiben.
Menschen im Schneckenhaus sind nur sehr schwer zu erreichen.

ganz zufrieden, wenn sein Leben so ist, wie es ist und vor allem wenn es so bleibt, wie es ist.

Er zeigt sich nicht, er fällt nicht auf, er macht einfach seinen Job. Zuverlässig, pünktlich, vielleicht ein bisschen langweilig, aber irgendwie auch ohne Probleme.

Jetzt kommt die gute Nachricht für alle Ausbilder: Um einen Michael müssen Sie sich nicht besonders kümmern. Denn Michael macht Ihnen und seinen Kollegen kein Problem. Michael macht seinen Job, und gut. Abgehakt. Wunderbar. Also eine Weinbergschnecke die uns keinen Ärger macht. Jetzt gibt es aber auch andere, wie zum Beispiel die Sabine.

Stille im Schneckenhaus

Sabine ist auch eine Auszubildende, wie immer ein fiktives Beispiel hier im Great Growing Up Podcast, Sabine macht auf den ersten Blick das gleiche wie Michael: Sie macht ihren Job. Sie ist still, und wenn es Aufgaben zu verteilen gibt, ist sie nie die erste und auch nicht die zweite, und manchmal meldet sie sich gar nicht. Sabine macht ihren Job. Wir wissen nicht, wie es ihr geht, denn Sabine teilt sich nicht mit. Und da beginnt auch schon das Problem. Es entsteht eine Lücke, eine Lücke der Ungewissheit. Wir wissen nicht, wie es Sabine geht, und wir haben keine Ahnung, was in ihrem Schneckenhaus vorgeht.

Wer sich ins Schneckenhaus zurückzieht, will schweigen.
Nicht alle, die schweigen, haben nichts zu sagen.

Ein Problem wird das dann, wenn Sie feststellen, dass ihr Umfeld in irgendeiner Form auf Sabine reagiert. Ihr Umfeld sind zunächst einmal die anderen Auszubildenden. Wenn sie als Ausbilder feststellen: Da wird gewaltig gelästert über die Sabine, da gibt es gewaltigen Unmut über sie, da gibt es Beschwerden, spätestens dann werden sie etwas unternehmen müssen. Denn sie kommen an dem Punkt, wo ihr betrieblicher Frieden in Gefahr ist.

Sabine macht Ärger. Witzigerweise macht sie Ärger, in dem sie überhaupt nichts macht. Sie macht ihren Job, o. k., aber: sie verursacht keinen Konflikt. Stimmt das?

Eben.

Der Konflikt

Sabine verursacht auf eine höchst unauffällige Art und Weise einen Konflikt, der uns früher oder später auffällt. Denn Sabine teilt sich nicht mit, und keiner weiß, was in ihrem Schneckenhaus tatsächlich vorgeht. Das sorgt für Unmut bei den Kollegen, das sorgt für Unsicherheit bei den Kollegen, und irgendwie weiß keiner so recht, was er mit Sabine anfangen soll. Vielleicht ist es sogar so, dass Sabine die anderen nervt. Denn so richtig macht sie ihren Job eben doch nicht. Irgendwie bleibt immer etwas liegen. Irgendwie muss man Sabine immer etwas hinterher räumen. Vielleicht sieht ihr Schreibtisch aus wie Sau, und es gibt einfach Grund sich über sie aufzuregen.

Das ist der Punkt, worin sich Sabine von Michael unterscheidet. Den Michael macht seinen Job. Und er macht keinen Ärger. Wir bekommen zwar nichts von ihm mit, aber das ist auch kein Problem. Weder für uns als Ausbilder, noch für die anderen Azubis, noch für die anderen Mitarbeiter. Bei Sabine ist das anders.

Warum Klopfen nichts bringt

Was kann ein ganzheitlicher Ausbilder, der sich dem Begriff ganzheitliche Ausbildung tatsächlich verpflichtet fühlt, tun, um Sabine aus ihrem Schneckenhaus zu locken? Nehmen wir mal die Standard Methode: ohne großes Nachdenken einfach mal tun, was uns logisch erscheint. Wir fordern Sabine auf: Mensch Sabine, mach doch endlich mal den Mund auf, zeige dich, wir sind interessiert daran, zu erfahren, wie es dir geht. Das machen wir möglichst regelmäßig und möglichst oft und am besten mit steigender Intensität. Das heißt: wir hämmern und klopfen an Sabines Schneckenhaus.

Wer aufs Schneckenhaus einhämmert, richtet nur Schaden an.
Ob Nuss oder Schneckenhaus - der Hammmer ist das falsche Werkzeug.

Jetzt wird es Zeit, dass wir uns wieder mal daran erinnern, wie sich so eine handelsübliche Weinbergschnecke verhält, wenn wir an ihr Schneckenhaus klopfen. Richtig, sie zieht sich immer weiter in ihr Schneckenhaus zurück und wird alles tun, nur nicht das, was wir von ihr wollen. Sie wird sich nicht zeigen. Und wissen Sie was? Sabine wird das als geübte Weinbergschnecke genauso tun.

Wenn wir diese Frage in unserem Kopf hören, oder wenn Sie uns vielleicht jemand stellt, ist das ein guter Moment. Denn dann sind wir einen Schritt weiter. Daraus ergibt sich die nächste – wichtiger – Frage. Warum um alles in der Welt will Sabine in ihrem Schneckenhaus bleiben und sich nicht zeigen? Das ist, wie gesagt, die entscheidende Frage, aus der sich alles andere ergibt. Warum wollen bestimmte Menschen sich auf keinen Fall zeigen?

Angst vor der Außenwelt

Die Antwort darauf hat mit etwas zu tun, worüber wir in unserer westlichen Kultur nur sehr ungerne sprechen: Sabine und alle anderen Weinbergschnecken haben Angst, sich zu zeigen. Jetzt ist uns das bei der Weinbergschnecke ja völlig klar: Die hat Angst um ihr Leben. Aber wovor, um alles in der Welt, soll denn, bitteschön, Sabine und jeder andere Azubi, der sich gerne in sein Schneckenhaus zurückzieht, Angst haben? Und warum überhaupt Angst haben? Wir sprechen ja höchst ungern über Angst. Wir können, wenn wir guten Willens sind, eingestehen, dass jemand wie Sabine unsicher ist und sich einfach nicht gerne zeigt. Doch wenn wir das zu Ende denken, ist das auch nichts anderes als Angst.

Sabine hat Angst sich zu zeigen. Warum? Menschen haben Angst davor, sich zu zeigen, wenn sie Angst davor haben, abgelehnt zu werden. Sabine hat nicht wirklich Angst davor, gefressen zu werden, aber sie hat Angst davor, auf Ablehnung zu stoßen. Sie hat Angst davor, sich zu zeigen, weil irgendjemand ihr bestätigen könnte, was sie möglicherweise selbst über sich denkt: Sabine, irgendetwas an dir ist nicht in Ordnung.

Was im Schneckenhaus passiert

Das Schwierige für uns, die wir Menschen ausbilden, ist jetzt, dass sich Sabine dessen möglicherweise überhaupt nicht bewusst ist. Im Gegenteil: Sie wird es abstreiten. Fast niemand, der mit sich selbst nicht im Reinen ist, wird es im Außen einfach zu geben. Das würde ja bedeuten, sich zu zeigen. Und eine Weinbergschnecke zeigt sich nicht, wenn irgendjemand an ihr Häuschen klopft. Was folgert daraus? Als Ausbilder müssen Sie mit Sabine und ähnlich gelagerten Ausbildungskolleginnen und -kollegen äußerst behutsam vorgehen. Klopfen, Hämmern, Zerren, Fordern wird sie nicht ans Ziel führen, denn Sabine will nicht raus aus ihrem Schneckenhaus.

Wie erreichen Sie als Ausbilder jetzt Sabine? Wie gesagt, Sie werden behutsam vorgehen müssen. Und wie machen Sie das? In dem Sie sich erst einmal in voller Bedeutsamkeit der Tatsache bewusst werden, dass Sabine genau das nicht will, was Sie sich so sehr von ihr wünschen: Sie will ihr Schneckenhaus nicht verlassen, denn sie hat Angst, sich zu zeigen. Sabine denkt, dass es viel zu riskant ist, sich zu zeigen. Weil sie eins auf den Deckel kriegt, weil sie ausgelacht wird, weil sie sich blamiert, weil sich selbst bloßstellt, weil sie in irgendeiner Form Ablehnung erfährt.

Wie man Schnecken aus ihrem Haus lockt

Wenn Sie als Ausbilder erreichen wollen, dass Sabine als Mensch in Erscheinung tritt, werden sie genau das tun müssen, was Sie sich von Sabine wünschen. Sie werden vorleben  müssen, was das Gegenteil von Rückzug ist. Und was ist das Gegenteil von Rückzug? Nein, ich meine nicht Angriff. Was ist das Gegenteil von Rückzug in Beziehung? Sich mitteilen.

Wer Beziehung erschafft, lockt Menschen aus ihrem Schneckenhaus.
Hilfreich: Beziehung herstellen in informellem, vertraulichem Rahmen.

Ich würde Ihnen empfehlen, suchen Sie das Gespräch mit Sabine in einem Raum, der ungefährlich ist. Mit Raum meine ich eine für Sabine ungefährliche Umgebung. Das heißt, möglichst wenig, am besten gar kein Publikum. Fangen sie an, Sabine auf Ihre Seite zu ziehen, in dem Sie mit ihr reden, ohne dass andere Azubi Kollegen, andere Mitarbeiter oder gar Chefs mit an Bord sind. Sprechen Sie allein mit Sabine und beginnen Sie, von sich selbst zu sprechen. Dann leben Sie vor, was Sie sich von Sabine so sehr wünschen. Sprechen Sie darüber, wie es Ihnen geht, darüber, was Sie gerade durchmachen. Zeigen Sie so viel von sich selbst, wie nötig oder wie es angemessen erscheint.

Mitteilen wirkt Wunder

Sprechen Sie darüber, wie es Ihnen mit Sabine geht, aber ohne Vorwurf. Sprechen Sie darüber, dass sie sich wünschen, hin und wieder mal ein bisschen mehr von ihr zu erfahren. Und laden Sie sie ein, kleine Schritte zu gehen. Fordern Sie nicht zu viel und geben Sie einfach ein bisschen mehr von sich selbst Preis als sie es ohne diese Herausforderung tun würden. Sie gehen damit kein besonders großes Risiko ein, denn Sabine wird sich anderen Menschen ohnehin nicht mitteilen, solange sie noch in ihrem Schneckenhaus sitzt.

Indem sie vorleben, dass sich ein Ausbilder zeigen kann, ohne Angst vor Blamage oder Ablehnung zu haben, geben Sie Sabine ein Beispiel dafür, dass es sich lohnen kann, sich selbst zu zeigen.

Und ja, es geht nicht nur darum, Sabine mit Samthandschuhen anzufassen. Es geht auch nicht darum, sie zu ignorieren und wieder in ihr Schneckenhaus zurück zu lassen. Es geht darum, sie zu fordern. Aber auch da empfehle ich Ihnen, verzichten Sie auf alles, was irgendwie wie Brechstange wirkt. Sabine wird beim leisesten Anflug von Hämmern und Klopfen wieder zurück in ihr Schneckenhaus kriechen. Und dann können Sie wieder von vorne anfangen.

Schnecken fragen nicht nach Hilfe

Ich empfehle Ihnen, stellen Sie Sabine vor kleine, behutsam ausgewählte Herausforderungen, wo sie sich zeigen muss. Geben Sie Ihre Aufgaben, wo sie sich in kleiner Runde präsentieren muss und übertragen Sie Ihr Verantwortung in überschaubaren Rahmen. Bringen Sie sie dazu, dass sie Führung übernehmen muss. Aber bitte immer in überschaubarem Rahmen. Überfordern Sie sie nicht, denn Überforderung ist genau das, wovor Sabine am meisten Angst hat. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb sich Sabine ihren Kolleginnen und Kollegen gegenüber nicht mitteilt.  Denn Sabine kommt nicht immer zu Ende mit ihren Aufgaben, sie lässt Dinge liegen, wird als unzuverlässig und schlampig wahrgenommen. Warum? Weil Sabine den einen Schritt nicht gehen kann, den es braucht, um Hilfe zu erhalten: nach Hilfe zu fragen.

Weinbergschnecken tun so etwas nicht, denn ich müsste mich ja zeigen mit meinem Unvermögen, mit meiner Unfähigkeit, die Aufgabe allein zum Abschluss zu bringen. Das macht eine Weinbergschnecke nicht, denn das würde bedeuten, sich im Unvermögen zu zeigen. Und glauben Sie mir, das ist das letzte, was Sabine und alle anderen Weinbergschnecken tun wollen.

Der Weg aus dem Schneckenhaus

Sie werden Sabine darin trainieren müssen, den einen Ausweg aus dem Drama, der für Sabine so wichtig ist, zu üben: Frage nach dem, was du brauchst. Oder auf Sabine bezogen: Bitte um Hilfe. Viele Menschen, insbesondere die klassischen Weinbergschneckentypen, haben große Angst davor, um Hilfe zu bitten. Denn um Hilfe bitten bedeutet, ich zeige mich damit, dass ich es nicht alleine schaffe. Aber gerade darin liegt Sabines großes Problem. Denn ihre Umgebung ärgert sich über Sabine und ihre Nachlässigkeit.

Das Training

Also: trainieren Sie Sabine darin, nach Hilfe zu fragen. Wie tun Sie das? Am besten, indem Sie es vorleben. Sie fragen Sabine um Hilfe. Sie fragen Sabine: „Hey, ich habe da eine Gruppe von neuen Auszubildenden, denen müsste ich mal zeigen, wie man dieses oder jenes erledigt, kannst du mich bitte darin unterstützen? Ich habe nicht genügend Kapazität, um diese Aufgabe alleine zu erledigen."

Neue Referenzpunkte schaffen

Das wäre doch mal eine Idee, um Sabine aus dem Schneckenhaus zu locken. Locken ist das Wort, das Sie sich merken sollten. Denn Hämmern, Klopfen und Ziehen nützen nichts. Locken Sie Sabine aus ihrem Schneckenhaus heraus. Verhelfen Sie ihr zu positiven Erfahrungen, damit sie einen Referenzpunkt dafür bekommt, dass es sich lohnen kann und sogar Spaß machen kann, aus dem Schneckenhaus herauszukommen. Weil sie Erfolg erleben wird. Wenn sie Sabine und anderen Weinbergschnecken Erfolgserlebnisse verschaffen, verhelfen sie ihnen zu einem Referenzpunkt, der ihnen erlaubt, dieses Risiko weiterhin einzugehen.

Denn darum geht es letztendlich, wenn sie ganzheitlich ausbilden. Bringen Sie junge Menschen und Weinbergschnecken dazu, ihre Bequemlichkeitszonen zu verlassen. Denn nur außerhalb der Bequemlichkeitszone findet Entwicklung statt. Bequemlichkeitszone ist das vornehme Wort für Schneckenhaus. Und im Schneckenhaus findet kein Wachstum statt.

Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.

© Matthias Stolla 2016