Die Ausgangslage
Rechtfertigung ist ein heikles Thema. Denn wir alle haben jahrelanges Training hinter uns und bemerken meistens gar nicht, wenn wir es tun. Ein Beispiel: Unser Ausbilder Bernd gibt seinem Auszubildenden Jan einen Auftrag: Er soll doch bitte die Dübel aus dem Testlabor wieder in ihre Behälter einsortieren. Bernd erklärt Jan seinen Auftrag und wendet sich dann wieder anderen Aufgaben zu, im festen Glauben, dass Jan seine Aufgabe erledigen wird.
Als Bernd dann nach einer Stunde zurückkommt, steht Jan noch exakt so da, wie damals, als er den Auftrag entgegengenommen hat: mit den Händen in der Hosentasche. Bernd fragt: „Jan, was ist denn mit den Dübeln?“ Und Jan erklärt: „Also, Ich wusste ja gar nicht genau, wo genau in welche Behältnisse die Dübel reinkommen, und ich konnte auch niemanden fragen, denn alle wirkten so beschäftigt. Und da habe ich mir gedacht, ich warte einfach, bis Sie wieder zurückkommen, und dann mach‘ ich auch keinen Fehler und sortiere die falsch ein.“
Gründe machen nicht glücklich
Bernd hört sich das alles an und weiß vor lauter Begründungen und Rechtfertigungen von Jan erst einmal gar nicht, was er sagen soll. Und folglich sagt er auch nichts. Nur, glücklich und zufrieden wird er damit nicht. Vor allem nicht, wenn sich das wiederholt, wenn er immer wieder diese Situation erlebt, dass er einem Azubi eine Aufgabe gibt, und sie wird nicht erledigt, und es gibt danach eine Unmenge von Erklärungen und Rechtfertigungen.
Warum wird Bernd nicht glücklich und zufrieden, obwohl Jan doch plausible Gründe dafür hat, warum er seine Aufgabe nicht erledigt? Um das herauszubekommen, müssen wir uns anschauen, was genau da passiert. Also: Jan erledigt seinen Auftrag nicht. Und was macht er danach? Er tut, was wir alle jahrelang gelernt haben: Er begründet sein Verhalten. Das haben alle von uns gelernt, spätestens in der Schule.
Warum wir Gründe suchen
Beispiel: Wir sind zu spät gekommen. Lehrer reagieren darauf meistens mit wenig Freude, sondern eher mit Ärger und Unmut. Und was wollen sie von uns wissen: Warum kommst du zu spät? Und wir haben gelernt: Je besser unsere Begründung, desto größer die Chance, dass wir straffrei davonkommen, desto eher kriegen wir den Kopf wieder aus der Schlinge. Je besser der Grund, desto harmloser die Konsequenz, desto größer die Gnade, desto größer die Chance auf Straffreiheit. Wer zum Beispiel eine Mutter im Rollstuhl Zuhause hat, hatte damit auch den perfekten Grund, um grundsätzlich straffrei auszugehen.
Aber was war der Lernerfolg? Wir alle haben gelernt: je besser der Grund, desto größer die Chance, ungeschoren davon zu kommen. Der Lernerfolg war, dass wir irgendwann begriffen haben: Die Gründe sind verantwortlich für unser Verhalten. Nicht wir.
Und genau deshalb wird Bernd unglücklich. Denn Jan ist eigentlich kein Kind mehr, sondern ein Azubi, dem er dazu verhelfen soll, erwachsen zu werden. Aber Jan übernimmt keine Verantwortung für sein Handeln. Jan reicht die Verantwortung weiter an die Umstände. Die sind schuld.
Das Dumme daran ist, dass Bernd – bewusst oder unbewusst - erkennt: Hier ist keine Besserung in Aussicht. Denn eines ist klar: Jan, und jeder andere Azubi auch, wird immer Gründe für sein Verhalten wissen.
Das erinnert mich ein bisschen an ein Zitat, das ich in meiner Zeit als Pfadfinder gehört habe. Das ging ungefähr so:
"Wer etwas nicht tun will, sucht Gründe. Wer etwas tun will, findet Möglichkeiten."
Darin steckt Wahrheit. Wer etwas nicht tun will, sucht Gründe - ich würde sagen – findet Gründe. Wer etwas tun will, findet Möglichkeiten.
Warum wir Rechtfertigung lieben
Aber dummerweise haben wir genau das Gegenteil gelernt. Wir haben trainiert: Ich brauche einen Grund, ich muss mein Verhalten erklären, dann bekomme ich Verständnis, dann gehe ich straffrei aus, wenn ich zu spät komme, wenn ich meine Aufgabe nicht erledigt habe.
Im Laufe der Jahre haben wir uns so daran gewöhnt, dass wir regelrecht verliebt sind ins Begründen, ins Erklären, ins Rechtfertigen. Wir tun es sogar, wenn uns gar niemand danach fragt. Vor einiger Zeit hatte ich einen Klienten hier in der Praxis, der vor einer Lohnverhandlung stand. Er war nicht zufrieden mit dem Angebot, das ihm der Prokurist gemacht hatte. Er wollte mehr. Das war Anlass für ein kleines Rollenspiel in der Praxis.
Wie Gründe unsere Position schwächen
Peter spielt Peter, ich den Prokuristen. Also: Peter kommt in den Besprechungsraum. Kurze Begrüßung, und der Prokurist eröffnet die Verhandlung, vielleicht mit der Frage, ob Peter denn das Angebot annehme. Peter fing sofort an zu erklären, warum das Angebot nicht gut genug sei, schließlich habe er recherchiert, und ein höheres Gehalt sei durchaus üblich, und außerdem habe er zwei Ausbildungen, und sein täglicher, produktiver Ausstoß rechtfertige doch ein deutlich besseres Angebot.
Ich habe Peter daraufhin gebeten, seine Rolle noch einmal zu spielen. Also. Prokurist fragt: Herr Soundso, werden Sie unser Angebot annehmen? Und Peter antwortet so klar wie nötig und so knapp wie möglich: Nein.
Die Kraft der Stille
Einfach nur Nein und sonst nichts. Die darauffolgende Stille muss Peter aushalten. Für ungeübte Menschen ist das nicht einfach. Aber Tatsache ist: Die Stille arbeitet für Peter. Denn auch wenn es wie ein Widerspruch klingt, die Stille hat eine Aussage. Die Stille sagt: Ich habe es nicht nötig, mein Nein zu begründen. Es spricht für sich selbst.
Darin steckt große Kraft, und diese Kraft wird der Prokurist spüren. Deshalb arbeitet die Stille nicht gegen Peter, sondern für ihn. Er muss sie nur aushalten und warten, bis der Prokurist, in dessen Feld der Ball jetzt liegt, eine neue Frage stellt: „Ja, was haben Sie sich denn gedacht?“ zum Beispiel. Und darauf antwortet Peter am besten erneut so klar wie nötig und so knapp wie möglich: „Ich möchte soundso viel Euro.“
Den Ball ins andere Feld spielen
Wenn Peter begründet und erklärt, warum soundso viel Euro absolut gerechtfertigt wären, schwächt er seine Position. In der Stille findet er sein bestes, sein kräftigstes Argument und seinen treuesten Verbündeten. Denn jetzt liegt der Ball erneut im Feld des Prokuristen, der eine unbequeme Frage stellen muss. Dann, und nicht vorher, sollte Peter antworten, warum die Summe passt: „Weil ich es Wert bin.“
Begründungen, vor allem ungefragte Begründungen schwächen unsere Position, weil unser Gesprächspartner bewusst oder unbewusst erkennt, dass wir Gründe nötig haben.
Keine Frage - keine Antwort
Noch ein Beispiel: Eine gute Freundin von mir stand vor einiger Zeit am Check-in-Schalter am Frankfurter Flughafen und wollte nach Amerika fliegen. Der Mann am Schalter warf zunächst einen kritischen Blick auf die Anzeige der Waage und sagte dann: „Sie haben Übergepäck.“
Meine Freundin sagte gar nichts. Was hätte sie auch sagen können? Oh, ich habe nicht darauf geachtet. Oh, das tut mir leid. Oh, können Sie mich dennoch mitnehmen? Oh, können Sie nicht eine Ausnahme machen? Nichts davon hätte ihre Position gestärkt. Sie hat einfach geschwiegen und die Stille für sich arbeiten lassen.
Schließlich hatte der Mann am Schalter ja auch keine Frage gestellt. Also schwieg sie, und die Stille arbeitete für Sie. Nach kurzer Zeit hat der Mann am Schalter sie einfach durchgewunken. Mit Übergepäck und ohne Aufpreis. Sonderlich gut hat meine Freundin am Frankfurter Flughafen damit vermutlich nicht ausgesehen, vielleicht sogar ein bisschen einfältig. Aber: Gut aussehen ist genau das, was wir wollen, wenn wir uns rechtfertigen. Wir wollen gut sein, o. k. sein. Wir wollen ungeschoren davonkommen, wir wollen keine Strafe, und wir haben gelernt, dass es funktioniert.
Der Ärger bleibt
Als Ausbilder bemerken wir allerdings, dass uns der Ärger bleibt, wenn unser Jan einen Auftrag einfach nicht erledigt und nach einer Stunde immer noch mit den Händen in der Tasche dasteht als wäre nichts geschehen. Und es ist ja auch nichts geschehen. Ausbildern bleiben da nur zwei Dinge: Ärger und Frust, weil sie nicht bekommen, was sie wollen: Menschen, die Verantwortung übernehmen. Wann immer ich mit Ausbildungs- oder Personalleitern spreche, steht Verantwortlichkeit ganz oben auf der Wunschliste dessen, was sie von Azubis wollen.
Verantwortung statt Rechtfertigung
Wir schauen noch mal zu Jan, der die Dübel nicht einsortiert hat. Wie hätte er denn Verantwortung übernehmen können? Klar, Jan hätte seinen Ausbilder Bernd oder irgendjemand anderen fragen können: Welcher Dübel kommt denn in welchen Behälter? Das wäre ein Weg gewesen. Oder hätte einfach anfangen können und später dafür geradestehen, wenn falsche Dübel im falschen Behälter gelandet wären. Beides wäre verantwortlich gewesen, denn im einen Fall hätte Jan dafür Verantwortung genommen, dass er Hilfe braucht und sie sich geholt. Im zweiten Fall, also wenn er einfach angefangen und möglicherweise Fehler gemacht hätte, hätte er dafür gerade stehen müssen, dass er eben Fehler gemacht hat.
Raus aus der Rechtfertigungsfalle
Wie hätte den Jan verantwortlich damit umgehen können, dass er nichts davon getan hat? Gute Frage, nicht? Die lässt sich auch nur schwer beantworten, wenn man in flagranti beim Nichtstun erwischt wurde und mit den Händen in der Hosentasche vor leeren Behälter steht. Also: Was könnte Jan seinem Ausbilder Bernd sagen, ohne sich zu rechtfertigen? Er müsste die Antwort bei sich selbst suchen. Das ist nicht leicht, aber genau darum geht es bei Verantwortung.
Warum hat Jan niemanden gefragt? Vermutlich weil er sich nicht die Blöße geben wollte, als nicht wissend entlarvt zu werden. Wenn er aber genau dafür die volle Verantwortung übernimmt, könntet seine Antwort ungefähr so lauten: Ich habe leider nicht gewusst, welcher Dübel in welchen Behälter kommt und ich habe mich nicht getraut, zu fragen, das war mir zu peinlich. Damit übernimmt Jan Verantwortung. Er steht selbst dafür gerade.
Das bedeutet nicht, dass Bernd jetzt völlig frei von Ärger reagieren wird. Denn die Aufgabe ist nicht erledigt. Aber er kann zumindest erkennen, dass Jan in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen, indem er dafür geradesteht, was er eben nicht getan hat.
Verantwortlichkeit trainieren
Am Horizont der ganzheitlichen Ausbildung taucht jetzt die Frage auf: Wie trainieren wir geradestehen? Das ist beinahe wie Muskeltraining. Geradestehen bedeutet: etwas aushalten. Zum Beispiel Stille oder die unangenehme Aufgabe, die Antwort für etwas bei sich selbst suchen zu müssen. Als Ausbilder würde ich Jan eine Aufgabe geben, die ihn zunächst einmal darin trainiert, für sich selbst gerade zu stehen. Das kann so aussehen: Also Jan, du wirst ab heute dreimal am Tag Nein sagen, wenn deine Azubi-Kollegen irgendetwas von dir möchten. Jan, kannst du mal zur Seite rücken? Nein. Jan, darf ich mal von deinem Brot beißen? Nein. Jan, bekomme ich mal dein Handy? Nein.
Die Spannung aushalten
Auf diese Weise trainiert Jan, die Spannung auszuhalten, die auf eine unangenehme Antwort folgt. Wenn ihn seine Azubi-Kollegen nach dem Grund für sein Nein fragen, darf er begründen. Vorher nicht. Die Stelle auszuhalten ist wie ein Muskeltraining. Am Anfang fällt das sehr schwer, ist beinahe schmerzhaft. Mit der Zeit aber steigert sich unsere Ausdauer.
Sich entschuldigen
Im zweiten Schritt würde ich Jan, wenn er mal wieder mit Begründungen und Rechtfertigung um sich wirft, eine Frage stellen: „Jan, gibt es außer Begründungen noch etwas, das du mir sagen möchtest? Öffnen Sie ihm eine Tür, zu dem, was Rechtfertigungen unnötig macht: sich entschuldigen. Eine Disziplin, die ein wenig aus der Mode gekommen ist. Politiker und Regierungen geben liebe die abstrusesten Rechtfertigungen und Erklärungen ab, ehe einer mutig genug ist, um zu sagen: Es tut mir leid, was ich gemacht habe. Ich finde das ganz schön schade, den Politiker und Regierungen geben damit ein äußerst schlechtes Beispiel.
Vorleben ist besser als enttäuscht werden
Wie wäre es denn, wenn sie als Ausbilder genau das Gegenteil machen? Sie werden künftig vorleben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, anstatt sich zu rechtfertigen, indem sie hin und wieder Tut mir leid sagen, wenn sie merken, irgendetwas kam nicht gut an oder sie haben einen Fehler gemacht.
Das mag sich komisch anfühlen, vor allem, weil sie ja in der Hierarchie als Ausbilder über den Auszubildenden stehen, aber Ihnen bricht dabei - das verspreche ich - kein Zacken aus der Krone. Im Gegenteil: Sie werden ihre Position stärken, nicht schwächen.
Perspektive verändern
Im dritten Schritt würde ich Jan noch eine Frage stellen: Was kannst du tun, um deine Aufgabe zu erledigen? Damit verändern Sie Jans Perspektive. Er sucht ab dann nicht mehr nach Gründen, er sucht Möglichkeiten. Und er wird sie finden.
Verantwortung kommt von Antwort
Verantwortung übernehmen bedeutet, die Antwort bei sich selbst zu suchen. Wenn in einem Training für Auszubildende ein Teilnehmer zu spät kommt und sich gleich gerechtfertigt und erklärt, was alles passiert ist und damit verhindert hat, dass er pünktlich kommen konnte, schicke ich Ihnen in der Regel noch einmal aus dem Zimmer. Ich bitte ihn, wieder herein zu kommen und folgendes zu sagen: „Guten Morgen, tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.“ Und sonst nichts. Danach frage ich den Azubi, welche Position sich stärker anfühlt. Die der Rechtfertigung? Oder die des sich Entschuldigens? Die Antwort ist klar. Wer sich rechtfertigt, macht sich schwach. Wer Verantwortung übernimmt, zeigt Stärke. In der Regel applaudieren dann die anderen Teilnehmer. Und das dürfen sie auch. Ihrem Azubi und sich selbst.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2016