Der Fingerzeig
Es gibt ein altes Lied von den Dire Straits mit dem Titel „Solid Rock“. In dem singt Mark Knopfler: „When you point your finger cause your plan fell through you got three more fingers pointing back to you.“ Um Menschen, die oft und gerne mit dem Finger auf andere zeigen, geht es heute: um Menschen, die oft und genre andere beschuldigen.
Das Fallbeispiel
Ich bin mir sicher, sie kennen solche oder ähnliche Situationen: Eine Gruppe Auszubildender hat in einem Besprechungsraum eine Präsentation erarbeitet und ihn in einem Zustand zurückgelassen, als hätten sie plötzlich vor irgendetwas flüchten müssen. Sie bemerken die Unordnung am nächsten Tag, als sie in dem Raum ein Meeting halten wollen. Das ärgert sie gewaltig, weil sie jetzt hektisch den Raum aufräumen müssen.
Nach dem Meeting schnappen sie ich den erstbesten Azubi der Gruppe, der ihnen über den Weg läuft und stellen ihn zur Rede: Jan. Der weiß sofort, wer schuld ist: Oliver, ihr Ausbilderkollege, der die Azubi-Truppe mit einer neuen Aufgabe so unter Druck gesetzt hat, dass sie keine Zeit mehr hatten, um den Raum aufzuräumen.
Für Sie wird es jetzt schwierig, denn Jans Antwort wirkt plausibel. Oliver ist manchmal recht fordernd, und das wissen sie. Aber irgendwie werden Sie Ihren Ärger dennoch nicht los, denn Jan weiß in der Regel immer jemanden, der schuld ist: andere Ausbilder, Azubikollegen, seine Eltern etc.
Beschuldiger wollen gut sein
Jan ist ein klassischer Beschuldiger. Das wirkt auf den ersten Blick sehr selbstbewusst. Es braucht Mut, um andere Menschen zu beschuldigen, denn beliebt macht man sich damit nicht. Beschuldiger wirken erst einmal sehr selbstbewusst, so als wäre ihnen komplett egal, was andere Menschen von ihnen denken. Das ist eine Täuschung, auf die Sie nicht hereinfallen sollten. Beschuldigern ist sehr wichtig, dass Menschen vor allem eines von Ihnen denken: dass sie gut sind. Beschuldiger wollen um jeden Preis als schuldfrei erkannt werden, dafür nehmen sie sogar in Kauf, dass sie sich bei denen unbeliebt machen, die sie beschuldigen.
Warum Menschen andere beschuldigen
Dass ihnen das so wichtig ist, hat einen Grund: Sie haben nicht gelernt, dass es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Das haben die wenigsten von uns. Ein Beispiel: Als Kind habe ich irgendwann entdeckt, wie der Platenspieler meines Vaters funktioniert. Na ja, nicht so ganz. Nach zwei, drei Schallplatten war die Nadel verbogen. Als mein Vater nach drei Tagen Musik hören wollte, fiel ihm das Desaster auf und er fragte mich: Hast Du an meinem Plattenspieler herumgemacht?
Das Dilemma
Jetzt steckte ich in einem bösen Dilemma. Gestehen oder lügen? Ich hätte alles leugnen können, aber außer mir wäre keiner als Täter infrage gekommen. Also gab ich es zu und wurde bestraft. Nicht mit Schlägen, aber mit einer Gardinenpredigt. Das Schimpfen war verdient, das will ich gar nicht bestreiten, aber es hatte einen Nebeneffekt: Mit jeder weiteren Erfahrung dieser Art verfestigte sich die Erkenntnis: Verantwortung übernehmen macht keinen Spaß, weil es mit Strafe verbunden ist – ob es sich dabei um Schimpftiraden, Schläge oder Freiheitsentzug handelt, macht grundsätzlich erst einmal keinen Unterschied. Wir lernen daraus: Verantwortung führt zu Strafe. Damit geht uns etwas immens Wichtiges verloren: die Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung.
Die lässt sich gut mit Jan und dem unaufgeräumten Besprechungsraum deutlich machen. Jan hat, wie die meisten Menschen, überhaupt keine Lust, bestraft zu werden, und lehnt deshalb sowohl Schuld als auch Verantwortung dafür ab. Was aber ist der Unterschied?
Der Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung
Schuld ist mit Urteil und Strafe verbunden. Sie macht Menschen schlecht und lässt sie dafür büßen. Sie ist nicht an Entwicklung und Lernerfolg interessiert. Wenn Sie glauben, dass Menschen aus Strafe lernen, fragen Sie sich bitte auch, warum unsere Vollzugsanstalten überfüllt sind.
Verantwortung hat eine ganz andere Funktion. In ihr steckt das Wort Antwort. Wer Verantwortung für etwas übernimmt, sucht die Antwort auf eine ganz bestimmte Frage bei sich selbst. Sie lautet: Wie habe ich zu dem Ergebnis beigetragen und was kann ich tun, um künftig ein besseres Ergebnis zu erschaffen? Genau das bedeutet, Verantwortung übernehmen.
Diskussionen um Schuld haben einen ganz anderen Zweck: Sie führen dazu, einen oder mehrere Schuldige zu finden und sie zu bestrafen. Besser wird dadurch erst einmal gar nichts. Im Gegenteil: Menschen, die sich schuldig fühlen, sind kein Gewinn für ein Unternehmen. Sie sind vielleicht kontrollierbar, aber ihr volles Potenzial werden sie nicht entfalten, weil sie viel zu viel Angst davor haben, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.
Beschuldiger sind Verfolger
Also wieder zurück zu Jan. Sein ausgestreckter Finger, mit dem er andere beschuldigt, weist ihm eine Rolle im Drama-Dreieck zu: Er ist ein Verfolger. Verfolger beschuldigen gerne. Ihre Haltung, mit der sie anderen begegnen, lässt sich auf folgende Aussage zusammenfassen: Du bist nicht okay. Die Absicht, die dahintersteckt, zeigt, worum es Beschuldigern wirklich geht: Klarzustellen: ich habe keine Schuld, ich bin okay.
Auf den ersten Blick mag das selbstbewusst und überlegen wirken, tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Menschen, die sich ihres Werts, ihrer Größe bewusst sind, haben es nicht nötig, andere Menschen, klein, schlecht und schuldig zu machen. Jan hat schlicht und ergreifend Angst davor, als schuldig zu gelten und bestraft zu werden.
Umgang mit Menschen, die beschuldigen
Für mich ist unbestritten, dass es Situationen gibt, in den Strafe angemessen ist. Junge Menschen, die begreifen, dass ihr Handeln Konsequenzen erzeugt, sind auf dem Weg zum Erwachsen werden einen wichtigen Schritt weiter. Die Frage aber, die Sie sich als Ausbilder stellen sollten, ist, was will ich erreichen? Will ich meinem Ärger Luft machen? Will ich Köpfe rollen lassen? Will ich einen Verantwortlichen finden?
Den Verantwortlichen finden
Die letzte der drei Fragen ist die interessanteste? Sie wollen einen Verantwortlichen finden? Am liebsten natürlich Jan, der erkennen soll, dass er verantwortlich ist. Ich rate zu einem mutigeren Schritt: Übernehmen Sie selbst Verantwortung dafür, dass die Situation so ist, wie sie ist. Stellen Sie sich der unangenehmen Frage: Wie habe ich dazu beigetragen, dass Jan so viel Angst vor Verantwortung hat, dass er sich in die Beschuldiger-Rolle flüchtet und was kann ich tun, damit er lernt, Verantwortung zu übernehmen?
Ich weiß, das klingt schrecklich unangenehm, aber glauben Sie mir, so schlimm ist es gar nicht, wenn Sie darauf achten, sich selbst nicht zu verurteilen. Es beginnt damit, dass Sie sich fragen, was Sie bei Jan erreichen wollen. Dass er künftig dafür sorgt, dass Räume ordentlich zurückgelassen werden. Gut.
Auf die Absicht kommt es an
Witzigerweise müsste er ja dann aber Verantwortung dafür übernehmen. Wie wäre es also, wenn Ihr vorrangiges Ziel wäre: Jan soll lernen, Verantwortung zu übernehmen? Denn das steht vor allem anderen. Wenn sie das verinnerlichen, können Sie Jan ganz anders begegnen als bisher. Ehe Sie mit Jan sprechen, fragen Sie sich ganz bewusst: was will ich mit meinem Gespräch erreichen? Wenn Sie ihr Primärziel klar vor Augen haben, können Sie etwaige Sekundärziele wie Dampf ablassen, einen Schulddigen finden und so weiter tatsächlich hintanstellen. Seien Sie eine Einladung dafür, Verantwortung zu übernehmen.
Wenn Jan andere beschuldigt, stellen Sie klar: Jan, ich möchte jetzt nicht über andere sprechen. Mich interessiert, was dein Beitrag daran war, dass der Raum heute Morgen noch ein Chaos war. Bestehen Sie auf einer Antwort. Wenn Jan darauf beharrt, dass er keinen Beitrag dazu geleistet hat, fragen Sie ihn, wie es sein kann, dass er keinen Beitrag dazu geleistet hat, dass der Raum aufgeräumt wurde. Versichern Sie ihm, dass es Ihnen nicht um Schuld und Strafe geht, sondern um Verantwortung und Entwicklung.
Verantwortung verdient Anerkennung
Laden Sie Jan ein, darüber nachzudenken, was er tun kann, damit er und seine Azubikollegen Räume künftig ordentlich zurücklassen. Und vor allem: Geben Sie ihm Anerkennung dafür, wenn sich verantwortlich zeigt, indem er seinen eigenen Beitrag anerkennt. Damit ermöglichen Sie ihm eine wichtige Lernerfahrung: es lohnt sich, Verantwortung zu übernehmen.
Genau da kommt das eingangs erwähnte Zitat aus dem Dire Straits Song wieder ins Spiel. Wie war das? Wenn ich mit dem Finger auf jemanden zeige, zeigen drei Finger zurück auf mich? Probieren Sie’s aus. Das stimmt tatsächlich. Unsere Anatomie macht uns damit schonungslos darauf aufmerksam, dass es uns rein gar nichts bringt, die Verantwortung bei anderen Menschen zu suchen. Auch die lautesten Beschuldiger sind vor allem eines: machtlos. Wer die Verantwortung immer nur anderen Menschen zuweist, beweist vor allem eines: dass er keinerlei Möglichkeit sieht, einen eigenen Beitrag zu leisten. Das mag bequem sein, machtvoll oder gar stark ist es nicht.
Der wichtigste Lernschritt
Das Leben geizt im Übrigen nicht mit Chancen, genau das zu lernen. Mehr als 30 Jahre nach meinem Vandalismus am Plattenspieler meines Vaters, durfte ich ähnliches erleben. Mein dreijähriger Enkel hatte den Tonabnehmer meines Plattenspielers zerlegt. Mir war sofort klar, wer der Täter war. Natürlich war ich ärgerlich und traurig wegen des Schadens. Mein Primärziel aber war etwas anderes. Ich fragte den Kleinen, ob er meinen Plattenspieler kaputt gemacht hatte. „Kleine Bürste. Putzen“ war seine Antwort. Die unschuldige Offenheit, mit der er es zugab, war so entwaffnend, dass mein Ärger unwichtig wurde. Ich habe ihm gesagt, dass es mich freut, wenn er es zugibt und ihm erklärt, dass der Umgang mit dem Plattenspieler ein Job für Erwachsene sei, weil sie sonst kaputtgehe. Seither bleibt mein Plattenspieler unbehelligt. Und mein Enkel lernt, dass es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen.
Beschuldigen hat nichts mit Größe zu tun
Ich bin überzeugt, dass es keinen wichtigeren Lernschritt gibt. Wenn Sie das im Hinterkopf behalten, werden die Beschuldiger unter ihren Azubis bzw. Mitarbeitern erkennen, dass sich wahre Größe nicht im Beschuldigen anderer, sondern in der Bereitschaft zur Verantwortung zeigt. Und das ist der Job eines guten Ausbilders.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2016