Azubi mit Startschwierigkeiten
Zu meinen ehemaligen Klienten gehört ein junger Mann in den frühen Zwanzigern. Ich habe ihn als Auszubildenden eines großen Handelsunternehmens kennengelernt. Die Ausbildungsleitung war gerade dabei, alle Hoffnung aufzugeben, die sie in diesen Menschen gesetzt hatte. Zu unkommunikativ, zu unzuverlässig, zu oberflächlich verhielt sich jener Auszubildende, der zuvor so hoffnungsvoll gestartet war. Tim, das ist natürlich nicht sein wahrer Name, stand kurz davor, das Unternehmen verlassen zu müssen. Tim gehört zur Generation der Millennials.
Millenials - eine Definition
Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass es diesen Begriff gibt, geschweige denn, was er bedeutet. Millennials, zu Deutsch in etwa Jahrtausender, sind Menschen, die grob gesagt zwischen 1980 und 2000 geboren sind. Die sogenannte Generation Y.
Dass Tim also ein Millennial ist wurde mir erst klar, als ich auf Youtube ein Video anschaute, dass mir eben jener Tim empfohlen hatte. „So Vieles trifft auch auf mich selber zu“, schrieb mir Tim über das Video und ergänzte: „Mir geht’s ganz ok. Zur Zeit bin ich nicht ganz in Form, um ehrlich zu sein.“
Sineks Vortrag
Das von Tim empfohlene Video zeigt einen Vortrag von Simon Sinek (https://www.youtube.com/watch?v=2SPfF0JbFb8). Der international erfolgreiche englische Buchautor und Motivationstrainer gilt als Experte in Sachen Führung und Erfolg. Und er bringt Dinge humorvoll auf den Punkt. Ich habe mir seinen Vortrag inzwischen dreimal angeschaut, und jedes Mal stand mir der Mund offen.
Erkenntnis Teil 1
Seither ist mir so klar wie nie zuvor, warum
- Tim und so viele seiner Generationsgenossen so ticken, wie sie ticken
- so viele Ausbilder und Personaler den Kopf über die Generation Y schütteln und sich vor der nachfolgenden Generation Z fürchten.
Erkenntnis Teil 2
Auch über mich selbst ist mir seither einiges klarer als es zuvor war. Etwa warum ich
- Menschen in Beziehungskompetenz trainiere
- zu Fuß auf hohe Berge steige und lange, sehr lange Wanderungen unternehme warum ich Vorfreude liebe und mich in Geduld trainiere
- ein Instrument spiele und vieles andere mehr
- in meinen Trainings keine Handys oder Smartphones zulasse.
Aber der Reihe nach.
Warum Millennials unglücklich sind
Millennials, sagt Simon Sinek, sind unglücklich. Nicht so, dass sie permanent weinend im Bett lägen. Eher diese Art Unglück, die sich in der Abwesenheit wahrer Freude manifestiert. Millennials fehle es an Erfüllung: in ihrer Arbeit, ihrer Beziehung, ihrem Leben. Dass sie auch Generation Y genannt werden, liegt nicht nur daran, dass sie auf die Generation X folgen. Es hat vielmehr damit zu tun, dass der Buchstabe Y im Englischen wie das Why, das Warum, ausgesprochen wird. Warum arbeite in diesem Job, warum bin ich mit diesem Menschen zusammen, warum lebe ich, fragen sich Millennials.
Das ist gar nicht schlimm. Ich stelle mir diese Fragen selbst auch hin und wieder. Ich bin offensichtlich kein Millennial; mein Glück ist, dass ich Antworten auf diese Fragen finde.
Vier Aspekte
Typische Millennials haben dieses Glück nicht – das ist ihr Unglück. Die Generation Y sucht ihr Glück und kann es nicht finden. Wie hat Tim geschrieben: „Mir geht’s ganz ok. Zur Zeit bin ich nicht ganz in Form, um ehrlich zu sein.“ Viel mehr ist nicht drin.
Wie kann es sein, dass Unglücklich sein, das Fehlen von Sinn und Erfüllung zum Kennzeichen einer ganzen Generation werden konnte? Sinek erklärt das anhand von vier Aspekten:
- Elternschaft
- Technologie
- Ungeduld
- Umgebung
Fatal – die Botschaft der Eltern
In Punkt 1 versteckt sich eine gute Nachricht, eine, die allerdings kaum mehr als ein Trostpreis sein kann: Millennials sind nicht selbst schuld an ihrem Unglück. Das ändert allerdings rein gar nichts daran, dass viele Millennials unglücklich sind. Sinek sieht die Eltern in der Verantwortung. Er spricht von falscher Erziehung, wenn er erklärt, dass viele Eltern ihren Kindern eine zwar gut gemeinte, aber in der Konsequenz leider fatale Botschaft eingetrichtert haben. Vielen Millennials wurde gesagt: „Ihr seid speziell, ihr könnt alles haben, wenn ihr es nur wollt.“
Programmierte Enttäuschung
Das klingt ermutigend und kräftigend, ist es aber nicht. Denn in der Realität erleben wir alle etwas anderes: Es genügt nicht, Dinge nur zu wollen. Ich muss etwas dafür tun. Ich kann nicht jeder sein, der ich will. Außerhalb der Fantasie erlebe ich mit dieser anerzogenen Haltung früher oder später Enttäuschung. Diese Ent-Täuschung, also das Ende der von den Eltern verursachten Täuschung, führt in der Regel zu Frust.
Frust ist nichts Schlimmes, solange ich gelernt habe damit umzugehen. Was vielen Millennials fehlt, ist genau das: Training im Umgang mit Misserfolg. Wer immer nur hört, dass er alles haben kann, wenn er es nur will, trainiert die Täuschung. Das Leben ist nicht so. Das Berufsleben schon gar nicht.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Millennials sind zudem die erste Generation der sogenannten Digital Natives. Sie sind mit digitalen Medien aufgewachsen und mit sozialen Medien. In ihnen erfahren sie täglich, wie schön und erfolgreich das Leben anderer ist, weil nur wenige Menschen Misserfolge posten. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und erlebter Realität vergrößert ihr Unglück. Sie weiß gar nicht, dass Wollen allein nicht reicht und gibt sich selbst die Schuld an ihrem Scheitern. In der Folge hat die Generation Y weniger Selbstantrieb als andere Generationen vor ihr.
Warum Handys süchtig machen
Damit sind wir bei Punkt 2: Technologie. Millennials sind mit Handys aufgewachsen. Ich habe selbst ein Smartphone und liebe es. Manchmal liebe ich es zu sehr. Ich muss mich disziplinieren, damit ich nicht draufsehe, wenn ich auf etwas warten muss oder gerade nichts zu tun habe. An der Bushaltestelle etwa oder mitten in der Nacht im Liegewagen des Nachtzugs. Eine der häufigsten Beschwerden, die ich von Ausbildern höre, ist das junge Menschen permanent auf ihr Smartphone starren. Warum tun sie das? Warum tue ich das? Das wirkt ja wie Suchtverhalten!
Genau, sagt Simon Sinek, das ist es auch: Suchtverhalten. Wie kommt der Mann darauf?
Suchtstoff Dopamin
Es liegt am Dopamin. Wenn wir auf unser Handy schauen und sehen, dass uns jemand geschrieben hat, dass jemand ein Like an unseren Post geheftet hat, dass wir erwähnt wurden, fühlen wir uns bemerkt, wahrgenommen, gesehen. Das macht uns glücklich.
Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass dieses Glücksgefühl auch früher da war: etwa, wenn mir jemand einen Brief geschrieben hat. Allerdings kam der Briefträger nur einmal am Tag. Nie wäre auf die Idee gekommen, stündlich meinen Briefkasten zu checken. Mit dem Smartphone ist das anders. Und das ist das Problem.
Der gelegentliche Umgang mit digitalen Geräten, mit sozialen Netzwerken ist ungefähr ebenso unbedenklich wie das gelegentliche Glas Wein beziehungsweise wie die gelegentliche Zigarette. Wer jetzt besorgt anmerken möchte, dass aus der gelegentlichen Zigarette oder aus dem Glas Wein eine Gewohnheit werden könnte, eine Sucht sogar, der ist ganz nah dran am Kern des Problems.
Wie ein Schluck Wein
Alkohol und Nikotin verändern die Art und Weise, wie unser Körper du unsere Psyche auf Dopamin reagieren. Dopamin ist im Volksmund als „Glückshormon“ bekannt und sorgt dafür, dass wir uns gut fühlen. Und es macht süchtig. Wir wollen uns gut fühlen. Wer nicht? Sinek behauptet, eine Textbotschaft auf dem Handy zu erhalten, bewirke Ähnliches wie ein Schluck Wein oder ein Zug an der Zigarette: Dopamin wird ausgeschüttet, das Glückshormon, das süchtig macht.
Ich bin kein Wissenschaftler und kann nicht bestätigen, dass das stimmt. Aber ich kann mich selbst beobachten und sehe, wie schwer es mir fällt, nicht zum Smartphone zu greifen, wenn gerade nichts los oder nichts zu tun ist. Wie oft schauen wir auf unser Handy, obwohl es keinen Ton von sich gegeben hat? Oft? Das ist Suchtverhalten.
Handy statt Beziehung
Na und, könnte man Sinek zurufen und fragen: Wem schadet’s? Darauf weiß ich eine Antwort: Es schadet unserer Beziehungsfähigkeit. Weil wir die Zeit, die uns geschenkt wird ver(sch)wenden, um in der digitalen Welt ein kurzes Glück zu finden, anstatt mit den Menschen um uns herum oder mit uns selbst in Beziehung zu gehen. Menschen beobachten, sie möglicherweise anzusprechen, zu fragen, wie es ihnen geht, sie um Hilfe zu bitten oder unsere Hilfe anzubieten, oder mal fünf Minuten lang in sich selbst hinein zu spüren, ohne sich digital abzulenken – das alles sind Qualitäten, die einen beziehungsfähigen Menschen ausmachen.
Beziehung beginnt mit Smalltalk
Smalltalk wird unterschätzt, mit ihm beginnt Beziehung. Wer die kleinen, scheinbar belanglosen Gespräche ablehnt und stattdessen lieber auf ein Display starrt, betrügt sich um das wahre Leben und um seine Fähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten. Das ist exakt der Grund, warum ich in meinen Trainings darauf Wert lege, dass die Teilnehmer auf ihre Handys zu verzichten – auch in den Pausen. Ich möchte, dass meine Teilnehmer lernen, sich wieder mit sich und den Mitmenschen um sie herum auseinanderzusetzen.
Oberflächlich glücklich
Dummerweise ist der Umgang mit Menschen, mit sich selbst und mit der Welt alles andere als stressfrei. Vom Erwachsenwerden ganz zu schweigen. Es gibt Konflikte, Enttäuschungen, Frust, Ärger, Trauer, Angst. Millennials wissen, wie man damit umgeht: Sie suchen Rat und Trost in ihrem Smartphone. Das sorgt dafür, dass sie sich wieder gut fühlen. Dopamin sei Dank.
Nur so richtig glücklich oder sinnerfüllt wird ihr Leben damit nicht. Das wird es nur mit realen Freundschaften, mit Freunden, die nicht nur da sind, um Spaß zu haben, sondern auch um beizustehen, um zu trösten zu ermutigen, zu vertrauen, zu stärken, zu hinterfragen und zu lieben. Unverbindliche Oberflächlichkeit reicht dafür nicht.
Alles wird sofort geliefert
Punkt 3, die Ungeduld. Instant gratification ist ein Begriff, der mich schon seit Jahren begleitet – man kann ihn mit sofortiger Belohnung übersetzen. Wer heute etwas haben will, muss nicht lange warten. Zwei, drei Mausklicks und Amazon liefert am folgenden Tag. Monatelang darauf warten, bis die Lieblingsserie wieder im Fernsehen kommt? Für Millennials undenkbar. Auch die Pizza kommt nach spätestens 30 Minuten frei Haus.
Ich will damit nicht sagen, dass früher alles besser war. Das war es nicht. Aber ich habe lernen müssen, dass ich auf manche Dinge warten muss. Manchmal ziemlich lange. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich die eine wirklich erstklassige Gitarre hatte. Was daran gut sein soll? Das Warten hat meine Ausdauer trainiert.
Ausdauer trainieren
Ich habe gelernt und verinnerlicht, dass manche Dinge ihre Zeit benötigen: auf etwas sparen, für etwas arbeiten, verlässliche Freundschaft aufbauen, Fähigkeiten erwerben, etwas lernen, erwachsen werden – all das braucht Zeit, ist mit Rückschlägen verbunden, und es genügt eben nicht, es einfach nur zu wollen. In der Regel müssen wir auch etwas dafür tun. Dafür braucht es Geduld beziehungsweise Ausdauer.
Genau deshalb steige ich immer wieder auf hohe Berge. Um immer die Erfahrung zu machen, dass mich viele kleine Schritte nach oben bringen. Deshalb wandere ich tagelang durch die weglose Wildnis. Weil ich die Ausdauer trainiere, die mich an hochgesteckte Ziele erreichen lässt. Weil ich körperliche erfahren will, dass ich mit Ausdauer und Geduld erreiche, was mir Instant gratification nie bieten kann: Entwicklung und Erfüllung.
Falsches vorgelebt
Die armen Millennials kommen hier ganz schön schlecht weg. Wer mit dem Finger auf sie zeigt, vergisst, dass sie nicht selbst schuld sind an ihrer Unerfülltheit. Jede Generation prägt die folgende. Wir selbst erschaffen uns die jungen Leute, auf die wir mit dem Finger zeigen.
Wenn wir Oberflächlichkeit, Beziehungslosigkeit und Sucht nach sofortiger Belohnung vorleben, lehren wir zwar das Falsche, aber wir lehren es.
Was Unternehmen dagegen tun
Und da kommt Punkt 4 ins Spiel: Die Umgebung, insbesondere die Arbeitswelt. Für Unternehmen, die junge Menschen ausbilden, habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht.
- Zuerst die schlechte: Nur sie können das ändern.
- Jetzt die gute: Nur sie können das ändern.
Da hilft alles Jammern und Schimpfen nichts. Junge Menschen landen irgendwann in Unternehmen, und die müssen mit ihnen klar kommen. Auch mit unglücklichen Millennials, die glauben, sie müssten nur wollen, die nicht wissen, wie sie damit klar kommen sollen, dass genau das nicht mehr funktioniert, die auf ihre Handys starren und die sofort belohnt werden wollen.
Wenn die in Unternehmen landen, die ebenfalls süchtig nach sofortiger Belohnung sind, denen kurzfristiger Erfolg wichtiger ist als das Erstreben langfristiger Unternehmensziele wie beispielsweise auch die Entwicklung junger Menschen, dann bleiben beide unglücklich: Millennials und Unternehmen.
Wo die Verantwortung liegt
Simon Sinek redet Klartext in diesem Punkt, und ich sehe das genauso: Es liegt in der Verantwortung der Unternehmen, das zu ändern. Wenn Eltern, Familien und Schule nicht leisten, was gebraucht wird, bieten Unternehmen die letzte Gelegenheit, das zu lernen, was Menschen brauchen, um Sinn, Erfüllung und Freude zu erfahren: die Fähigkeit, verantwortlich Beziehung zu erschaffen – zu sich selbst, ihren Mitmenschen und zu ihrer Arbeit.
Das ist der Grund, warum ich Auszubildende und Mitarbeiter von Unternehmen trainiere. Darin, wie sie mit ärgerlichen oder traurigen Ereignissen umgehen, wie sie Angst nicht mehr leugnen, sondern nutzen, um mutig und achtsam zu sein. Wie sie andern Menschen so zuhören, dass die sich akzeptiert fühlen, wie sie Verantwortung für sich selbst und ihr Leben übernehmen und dabei überrascht feststellen: Hey, das macht mich glücklich.
All das sind Disziplinen von Beziehungsfähigkeit.
Beziehungsfähigkeit ist der Schlüssel
Beziehungsfähigkeit ist der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben. Das gilt für die Millennials ebenso wie für alle nachfolgenden Generationen. Und ich bin sicher: Die Generation Z wird nicht die letzte sein.
Und mein ehemaliger Klient Tim, der hoffnungsvoll gestartete, dann aber gestrauchelte Azubi? Der hat ein sehr intensives, mitunter auch sehr unbequemes Coaching zum Thema Beziehungsfähigkeit erfahren und vieles davon umgesetzt: Seine Ausbildung hat er mit einer 1 vor dem Komma abgeschlossen, und sein Ausbildungsbetrieb hat ihn mit Kusshand übernommen.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla, 2017