„Wie herrscht Angst?“ fragt ein sehr interessanter Artikel in der „Zeit“ vom 10. Januar 2019. In Form eines Interviews unterhält sich die Redaktion mit der 1947 in New York geborenen Martha Nussbaum. Sie lehrt als Professorin in Chicago du gilt als eine der angesehensten Philosophinnen der Welt. Die Frage allein ist bereits Teil des Problems: Denn wer sagt, das Angst überhaupt herrscht? Diese Episode stellt klar, warum keine Demokratie Angst vor der Angst haben muss.
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Ein Streitgespräch über die Angst
Das Interview ist kein wirkliches Interview, eher ein Streitgespräch, denn die Redaktion nimmt nicht einfach nur alles hin, was die Philosophin sagt. Stattdessen hinterfragt sie fleißig und bezieht hin und wieder eine Gegenposition. Und genau das gefällt mir sehr gut. Wenn auch beide Seiten letztlich nicht zum Kern der Dinge vorstoßen und die im Titel selbst gestellte Frage unbeantwortet: Wie herrscht Angst?
Einfach nur ein Gefühl
Dass sie die Antwort schuldig bleiben, ist sehr schade, denn in ihr findet sich der Schlüssel zur Lösung des Problems. Die Angst allein kann gar nicht herrschen. Sie wird einfach nur gefühlt. Entscheidend ist allein, welche Schlüsse wir Menschen ziehen, wenn wir vor etwas Angst haben. Vor Krieg und Umweltzerstörung etwa, vor autokratischen Potentaten und populistischen Parteien, vor Überfremdung und Globalisierung, vor Unsicherheit und letztlich vor dem Tod. Aber der Reihe nach.
Gewagte Behauptung
Schon in der Unterzeile des Titels begegnet mir eine gewagte Behauptung: Unter allen menschlichen Emotionen sei Angst die machtvollste, steht dort zu lesen. Warum eigentlich? Warum sollte Angst machtvoller sein als Ärger, Trauer und Freude? Weil Angst geeignet ist, Menschen zu unterdrücken? Das mag sein, aber ist sie deshalb machtvoller als die aus dem Ärger gespeiste Aggression, mit der ein Diktator seine Untergebenen bedroht? Ist die Angst machtvoller als die Trauer, die Menschen berühren und verbinden kann? Ist sie stärker als die Freude, die begeistern und mitreißen kann?
Vergleich bringt keinen Vorteil
Ansichtssache würde ich sagen. Und: Meiner Meinung nach bringt uns ein Ranking der Gefühle keinen Vorteil. Im Gegenteil: Vergleich sorgt immer dafür, dass irgendetwas schlechter ist als etwas anderes. Und genau da beginnt das Problem. Die Angst hat einen schlechten Ruf. Den hatte sie offensichtlich schon in der Antike. Martha Nussbaum zitiert ihren Kollegen von einst, den guten alten Aristoteles. Der dachte:
"Angst ist das Leid, das einen angesichts eines anscheinend bevorstehenden Übels packt, verbunden mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, das Übel nicht aus eigener Macht abwenden zu können."
Gefühle sind keine Gedanken
Ich will weder einem Genie wie Aristoteles noch einer der angesehensten Philosophinnen des Planeten an den Karren fahren, aber eines muss ich klar stellen: Beide bringen da etwas durcheinander, das nicht zusammengehört. Mit einem Beispiel gehe ich jetzt Schritt für Schritt durch Aristoteles Definition und zeige dabei, warum Angst nicht herrschen kann.
Beispiel Klimawandel
Der Klimawandel macht mir Angst. Ich bin mir sicher, dass er unser aller Leben beeinträchtigen wird, und die Prognosen schauen nicht gut aus. Die Folgen des Klimawandels sind das anscheinend bevorstehende Übel. Das Gefühl, das sie in mir auslösen, ist Angst. Soweit sind Aristoteles, Frau Nussbaum und ich uns einig.
Machtlosigkeit ist kein Gefühl
Dann meint Aristoteles, diese Angst sei verbunden mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, das Übel aus eigener Kraft nicht abwenden zu können. Martha Nussbaum findet diese Definition ziemlich gut. Ich halte sie für grob verfälschend. Warum? Machtlosigkeit ist kein Gefühl, Machtlosigkeit kann ich nicht fühlen wie Angst, Ärger, Trauer oder Freude. Sie ist vielmehr ein Zustand, der wiederum Gefühle auslösen kann – Angst, Trauer oder Ärger, Freude wohl eher selten. Ob ich tatsächlich machtlos bin, weiß ich gar nicht. Tatsächlich kommt es darauf an, wofür ich mich entscheide.
Macht beruht auf Entscheidung
Ich kann zum Beispiel angesichts des Klimawandels und seiner möglichen Folgen resignieren, weil ich denke, ich sei machtlos. Das ist ein Gedanke, kein Gefühl. Und dieser Gedanke beruht auf einer Entscheidung, die ich aufgrund der Informationen treffe, die ich nutze.
Die Angst entscheidet nicht
Ich kann mich auch ganz anders entscheiden und mein Leben verändern: aufs Auto, auf Plastik und auf Fleisch verzichten, einen Verein gründen, im Internet in Erscheinung treten, in die Politik gehen, die Welt retten. All das wären Entscheidungen, die auf ein und demselben Gefühl basieren: auf der Angst. Entscheidend ist nicht die Angst, sondern, was ich mit ihr anstelle. Nicht die Angst herrscht, sondern wir selbst entscheiden, ob wir resignieren und uns beherrschen lassen oder ob wir etwas unternehmen gegen das, was uns Angst macht. Damit erklärt sich, warum Angst nicht herrschen kann.
Das Prinzip Verantwortung
Das simple Prinzip dahinter ist mit einem Wort beschrieben, dass mich seit meiner Zeit als Teenager begleitet: Verantwortung. In dem besagten Streitgespräch in der Zeit kommt diese Wort nicht einmal vor. Leider. Denn Verantwortung ist die Antwort auf die Frage, warum Angst nicht herrschen kann.
Feind der Demokratie?
Immerhin stellt die "Zeit"-Redaktion die wichtige Frage, ob Angst zu haben nicht einfach eine menschliche Tatsache sei und will wissen, warum wir sie überhaupt fürchten müssen. Weil sie die Demokratie bedrohe, antwortet Martha Nussbaum, und ich bin einigermaßen fassungslos. Angst bedroht die Demokratie? Ich weiß, das klingt zunächst schlüssig. Schließlich haben es Feinde der Demokratie immer dann besonders leicht, wenn besonders viele Menschen Angst vor der Zukunft haben. Das hat den Nationalsozialisten ebenso den Weg an die Macht geebnet wie allen anderen Potentaten, die heute für Schlagzeilen, Kopfschütteln und Abscheu sorgen.
Angst als Triebfeder
Aber nicht die Angst ist das Problem. Ich habe auch Angst. Etwa vor rechtsextremen Populisten, die unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung den Garaus machen wollen. Schadet diese Angst der Demokratie? Wohl kaum. Zumal sie Triebfeder für diese Podcast-Episode ist. Ich arbeite in meinen Trainings ganz gezielt daran, dass Menschen ihre Gefühle als neutral betrachten: die Freude, aber eben auch die Angst, die Trauer und den Ärger.
Angst als Problem
Alle vier Gefühle haben in gleichem Maße positive wie negative Seiten. Davon bin ich überzeugt. Die Frage ist allein, welche ich nutze. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Ich hatte früher ein großes Problem mit Angst. Das Gefühl war für mich verknüpft mit einer Information, die besagte: Wenn ich vor etwas Angst habe, lass ich es bleiben. Dieser Entscheidung bin ich jahrelang gefolgt. Ich habe Herausforderungen gemieden so gut es eben ging. Trainings vor Gruppen fremder Menschen geben? Bloß nicht!
Angst als Chance nutzen
Man könnte daraus folgern, dass die Angst der Feind meiner persönlichen Entwicklung war. Analog zu Martha Nussbaums Folgerung, dass Angst ein Feind der Demokratie sei. Zu meinem großen Glück meint es das Leben gut mit mir, und ich durfte etwas anderes lernen: nicht meine Angst entscheidet, was ich tue, sondern ich. Da war ein heftiger, emotionaler Prozess, der sich für mich gelohnt hat. Wenn ich Angst vor einer Herausforderung habe, weiß ich dass in ihr eine Chance zur Entwicklung verborgen ist. Und ich alleine entscheide, ob ich sie nutze oder nicht.
Die Angst bleibt - na und?
Ich fühle immer noch Angst. Vor jedem Training. Schließlich weiß ich nie welche Menschen in welcher Stimmung mich dort erwarten. Andere mögen das Gefühl Aufregung nennen. Da widerspreche ich nicht. Aufregung ist für mich nur ein anderes Wort für Angst. Ich habe keine Angst davor, das Gefühl beim Namen zu nennen.
Einen Unterschied machen
Die Angst als negativ oder bestimmte Formen von Angst gar toxisch zu verteufeln, dient der Sache nicht. Je mehr Menschen begreifen, dass Angst das Gefühl ist, mit dem Mensch und Tier auf Bedrohung und Ungewissheit reagieren, desto sicherer wird unsere Demokratie. Es macht einen großen Unterschied, ob ich mit meiner Angst, sagen wir vor Überfremdung, verantwortungsvoll auseinandersetze und mich breit und unvoreingenommen über Tatsachen und Entwicklungen informiere, oder ob ich einfach nur vermeintlichen einen starken Mann sucht, der mir erzählt, was ich hören will, um meine Angst nicht mehr zu fühlen.
Der Mensch entscheidet
Nicht die Angst herrscht. Jeder Mensch entscheidet selbst, ob er sich beherrschen lässt. Das gilt in der Demokratie ebenso wie im Arbeitsleben und in der Familie. Das ist Verantwortung.
Soziale Sicherheit
Was mir gefällt, ist Martha Nussbaums Verweis auf den US-Präsidenten Theodore Roosevelt, der aus dem Elend der Großen Depression einen wichtigen Schluss zog: soziale Recht wie das auf ein auskömmliches Einkommen, auf ein würdiges Zuhause, auf gesundheitliche Vorsorge schützen die Demokratie. Natürlich lassen sich so ganz konkrete Zukunftsängste verhindern oder gar vermeiden, entscheidend ist aber, dass sie zuvor etwas schaffen, das angst eindämmt: Sicherheit. Im Umkehrschluss bedeutet das: nicht die Angst ist der Feind der Demokratie, sondern soziale Unsicherheit, man könnte auch sagen soziale Ungerechtigkeit.
Ursache des Übels
Martha Nussbaum sagt, sie interessiere sich für die Ursachen, die dafür sorgen, das Angst uns beherrschen kann. Für mich war es eine simple Entscheidung: Angst gleich Rückzug. Damit hatte ich der Angst die Macht gegeben, mich zu beherrschen. Aber woher kam diese Entscheidung? Was war die Ursache?
Das seltene Geschenk
Die Angst ist nicht das Problem. Jeder Säugling kann mit ihr umgehen. Genauso wie mit den anderen Gefühlen Ärger, Trauer und Freude: indem er sie äußert. Das geschieht manchmal lautstark, manchmal nur mit Blicken, Schluchzen oder Glucksen. Hat der Säugling großes Glück, wird er dabei von einem Erwachsenen gehalten, der ihm etwas schenkt, das selten geworden ist: Akzeptanz. Anders ausgedrückt: Der Erwachsenen vermittelt ihm, dass er nachvollziehen kann, was der oder die Kleine fühlt. Das genügt. Nach kurzer Zeit ist der Ausbruch in der Regel vorbei.
Trainierte Verleugnung
Die Realität verläuft leider meist weniger glücklich. Vor allem wenn es um Angst geht, fällt Erwachsenen die Akzeptanz schwer. Wie fast jedes Kind hörte ich immer wieder den gleichen Satz: "Du musst doch keine Angst haben." Unabhängig davon, dass er stets mit guter Absicht ausgesprochen wird - dieser Satz ist die Ursache. Er trainiert uns darin, unsere Angst zu verleugnen und zu verdammen. Anstatt sie zu nutzen, um vorsichtig oder mutig zu sein - je nach Entscheidung. Stattdessen lernen wir, Angst vor Angst zu haben und wollen sie loswerden, sobald wir sie fühlen. Das ist das Problem.
Die Angst entmachten
Die gute Nachricht ist folgende: So verhängnisvoll die alte Entscheidung auch war, ich kann sie korrigieren. Tatsächlich aber war und bin ich immer der Souverän meiner selbst geblieben. Schließlich war ich es gewesen, der die Angst ermächtigt hatte. Diese Erkenntnis war Gold wert, denn sie öffnete mir den Weg zu einer neuen Entscheidung: Wenn ich meine Angst ermächtigen kann, kann ich sie auch wieder entmachten. Und genau das habe ich getan. Gott sei Dank!
Ohne Angst kein Mut
Neulich habe ich einen Science Fiction mit Tom Cruise in der Hauptrolle gesehen. "Edge of tomorrow"- eine düstere Zukunftsvision, in der sich Menschen gegen grausige Aliens zur Wehr setzen. Der Offizier von Tom Cruises Truppe schärft seinen Soldaten ein, dass es okay sei, Angst zu spüren. Denn ohne sie gäbe es keinen Grund mutig zu sein. Dass so eine Haltung Eingang in eine Hollywood-Produktion findet und sogar von einem Offizier geäußert wird, gefällt mir. Das macht mir Mut.
Für den Mut entscheiden
Ich wünsche mir, dass immer mehr Mitarbeiter, Wähler, einfach immer mehr Menschen, sich ihrer Verantwortung und Macht bewusst werden. Sich von der Angst lähmen und beherrschen zu lassen, setzt eine Entscheidung voraus. Sie erfolgt meist unbewusst. Wer sich auf die Suche nach ihr begibt, kann sie finden und - ganz bewusst - eine neue Entscheidung treffen. Es lohnt sich. Für Demokratie ebenso wie für Unternehmen. Jedes Unternehmen, das wirtschaftlich erfolgreich sein und bleiben will, braucht Menschen, die ihre Angst wahrnehmen und sich für den Mut entscheiden.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2019