Psychische Krankheiten nehmen zu
Karin Weyrich: Also du machst das halt auf deine Art. Das heißt, wenn jetzt eine Firma zu dir kommt und sagt, bei uns sind immer 40 Prozent krank, dann gehst du nicht zu den Leuten nach Hause ins Krankenzimmer, sondern du sprichst die Verantwortlichen an. Also du sprichst mit den Verantwortlichen, mit dem Gruppenleiter, mit den Abteilungsleitern und instruierst sie erst einmal, wie sie eine Gesprächsführung machen mit den Leuten, dass sie praktisch zuhörend fragen. Du sprichst nicht mit den Leuten, die sich verweigern. Also du gehst dann diesen Weg. Und wenn eine Firma kommt und hat so viel kranke Leute, dann ist ja sehr viel im Argen. Da ist ja viel zu tun, denke ich mir.
Wenn die Kultur nicht stimmt

Matthias Stolla: Da gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist da irgendwas physisch ungesund. Dann werden die Leute physisch krank. Aber in der Regel ist es ja nicht so. In der Regel ist es so, dass die Kultur nicht stimmt, die Atmosphäre nicht stimmt, der Umgang mit den anderen nicht. Und das letzte Mittel, das viele Mitarbeiter sehen oder das vorletzte vor der Kündigung, ist wirklich: Ich lasse mich krankschreiben. Und bei vielen ist das auch so: Die sind wirklich krank. Der Anteil der psychischen Erkrankungen an den Fehlzeiten in Unternehmen in Deutschland wächst von Jahr zu Jahr. Schneller als alle physischen Krankheitsbilder. Die Leute sind kaputt, wir erfinden ja auch immer wieder mal neue Worte: Burnout.
Was Menschen ausbrennt
Die Leute sind ausgebrannt. Und nach meiner Beobachtung nicht durch die Arbeit selbst. Sondern weil sie nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen. Sei es, indem Sie sagen: "Chef, wie wär's denn auch mal mit ein bisschen Anerkennung?" Da rede ich übrigens nicht von Geld. Ich rede von authentisch, glaubhaft vermittelter Wertschätzung.
Oder: "Chef, sorry, Jetzt ist mal gut. Ich kann das heute nicht auch noch erledigen." Menschen, die das nicht können, landen im Burnout. Das ist das gleiche Bild wie bei Mobbing-Opfern.
Abgrenzung ist gesund
Wenn ich nicht in der Lage bin zu sagen "Jetzt reicht's" - das führt in den Burnout. Und das macht Menschen krank. Genauso wie ein Chef, der sich benimmt wie offene Hose, der einen demütigt oder abblitzen lässt oder seine Missachtung zeigt - das treibt Menschen in die psychische Krankheit.
Persönlichkeitsentwicklung sichert den Erfolg
Karin Weyrich: Das heißt, deine Coachings, deine Arbeit mit den Leuten in der Firma zielt darauf ab, dass die Kommunikation wieder gesund wird. Jeder einzelne wächst daran für sich persönlich. Jeder einzelne Mitarbeiter geht in Richtung Selbstermächtigung. Verstehe ich das so richtig?
Matthias Stolla: Absolut. Es geht um Persönlichkeitsentwicklung. Ich kenne große Unternehmer hier und bei uns in der Region - wir hier im beschaulichen Hohenlohe nennen uns ja die Region der Weltmarktführer, weil wir ganz viele Weltmarktführer unter uns haben etwa in der Befestigungstechnik, Ventilation, Elektromotoren oder Verpackungen. Da gibt es sogenannte Cluster hier.
Ohne geht's auf Dauer nicht
Und ich kenne Unternehmer von diesen Weltmarktführern, die ganz klar sagen: Persönlichkeitsentwicklung ist Teil unseres wirtschaftlichen Erfolges. Weil es ohne dauerhaft nicht funktioniert. Viele Unternehmen, die nicht in den Ballungszentren angesiedelt sind, haben erhebliche Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu rekrutieren.
Auf dem flachen Land - das ist einfach für viele Menschen nicht so attraktiv, vor allem nicht für gut bezahltes Führungspersonal. Wenn du da nicht punkten kannst mit einer top Unternehmenskultur, wo der Mitarbeiter weiß: Wow, da bin ich Minimum acht oder vielleicht auch mal zehn oder 15 Stunden am Tag drin, ich will da Freunde haben, ich will Spaß an meiner Arbeit haben. Ich will morgens gerne zur Arbeit fahren. Was hat ein Unternehmen davon, wenn die Mitarbeiter keinen Bock haben, morgens zur Arbeit zu fahren?
Von der Entwicklung hängt alles ab
Das ist doch kein Gewinn. Das ist doch Geldvernichtung. Es geht darum, eine Kultur zu erschaffen, wo die Leute sagen: Heute wird es wieder cool. Es geht eben nicht nur darum, dass es die Gesamtbilanz ist, dass der Umsatz wächst. Da geht es auch darum, dass ich mich als Mitarbeiter menschlich weiterentwickele. Davon hängt alles ab.
Unterforderung beenden
Karin Weyrich: Es gibt ja in manchen Unternehmen Leute, die sind unterfordert. Er sitzt an seinem Platz und hat Fähigkeiten und Talente, die er nicht einsetzen kann auf dieser Position. Bist du da jemand, der das sieht und erkennt und dann Vorschläge macht, welche Position oder welcher Aufgabenbereich diesen Mitarbeiter mehr erfüllen könnte?
Matthias Stolla: Wenn ich danach gefragt werde vom Führungspersonal, dann tue ich das. Es gibt zwei Richtungen, aus denen sich so das Phänomen, das du beschreibst, beobachten lässt. Einmal aus der Richtung des Mitarbeiters. Es kann sein, dass solche Menschen klein spielen. Dass sie möglicherweise kein allzu ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben und sich ihrer eigenen Fähigkeiten, ihres eigenen Potenzials überhaupt nicht bewusst sind. Das beobachte ich leider oft bei jungen Menschen.
Potenzial erkennen
Gerade bei Azubis. Und ich werde immer wieder von meinen Kunden gefragt: Was siehst du denn in dem und dem der? Und bei der sehen wir z.B. echte Führungsqualitäten, siehst du das auch so, Matthias? So etwas geschieht immer wieder. Ich kann mich auch an einem einen Teilnehmer in einem meiner allerersten Trainings erinnern. Da wusste ich am Tag 1 schon, dieser junge Mann könnte mal meinen Job machen. Weil er so anders angesprungen ist auf Training und es mitgetragen hat.
Der hat inzwischen schon Videos mit mir produziert. Er war schon als Praktikant auf Trainings mit dabei und ist in seinem Unternehmen ein hochgeschätzter Mitarbeiter und Sympathieträger.
Die zweite Richtung, aus der man beobachten kann, dass jemand unterfordert ist, ist es aus der des übergeordneten Miteinanders, der Führungsperson.
Und da ist es oft auch ein Problem von mangelndem Selbstwertgefühl. Wenn die Führungskraft ein Problem damit hat, dass jemand anderes unter ihr wachsen könnte, dann könnte auch das die Ursache dafür sein, dass jemand sein Potenzial nicht auslebt.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla, Great Growing Up, 2021