Stillstand - Wenn Menschen keine Ziele haben
Es gibt Menschen, die scheinen sich unheimlich wohl zu fühlen dort, wo sie sind. In dem Zustand, in dem sie sind, in dem Entwicklungsstadium, wo sie sind. Und sie wollen auch überhaupt nirgendwo anders hin. Das gibt es nicht nur bei Azubis, sondern auch bei sogenannten ganz normalen Menschen. Ich hatte das auch schon. Ich fühle mich allerdings nicht mehr wohl, wenn ich kein Ziel habe. Einem Ziel zu folgen, bedeutet, den Ort, an dem ich mich befinde, zu verlassen. Ich verlasse den mir bekanten Bereich und erschaffe Veränderung. Das verursacht bei Menschen grundsätzlich ein Gefühl: Angst vor Veränderung.
Das Risiko Spontaneität
Vielleicht habe ich mir gerade deshalb dieses Ziel gesetzt, einen Podcast einzusprechen zum ersten Mal ohne Skript, also frei von der Leber weg zum Thema Ziele setzen. Das erinnert mich an einen Spruch, der so alt ist, dass ich gar nicht mehr weiß, wer ihn erfunden hat: Spontanität will wohl überlegt sein. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, macht aber nichts. Denn das hat indirekt auch mit unserem Thema zu tun: Wie viel Spontanität brauche ich? Wie viel Mut habe ich, um aus dem Bereich dessen, was ich kenne heraus zu treten, um was Neues zu erfahren und damit auch Neues zu lernen?
Für Entwicklung braucht es Mut
Wie ist das mit Azubis, was wünschen wir uns von Azubis? Wir hätten gerne, dass die jungen Leute sich Herausforderungen stellen, dass sie etwas beginnen, etwas tun, das sie bisher noch nicht getan haben, sich auf Neues einlassen, neue Dinge ausprobieren, Erfahrungen machen, neue Dinge lernen. Dazu braucht es eine Eigenschaft mit drei Buchstaben: MUT. Immer wenn ich mich einer Herausforderung stelle, brauche ich Mut, denn ich riskiere ja immer, dass ich diese Herausforderung nicht bestehe. Jede Herausforderung birgt das Risiko des Scheiterns in sich, . So zum Beispiel auch meine Übung, heute diesen Podcast zum ersten Mal ohne Skript frei zu sprechen. Das kann ja auch schiefgehen.
Routine in der Bequemlichkeitszone
Ich kenne Menschen, die haben sich ihr Leben tatsächlich so eingerichtet, dass sie im Grunde keinem Ziel folgen. Das „im Grunde“ ist wichtig, darauf komme ich später noch zurück. Ich kenne Menschen, deren Leben verläuft nach einem strikten Muster: morgens aufstehen, optional Zigarette, ganz bestimmt aber Kaffee, vielleicht im bisschen Frühstücksfernsehen oder auch auf die altmodische Art Zeitung, dann ab ins Auto, Kilometer runterreißen zur Arbeit, dort arbeiten. In der Mittagspause irgendetwas schlabbern und weiter arbeiten, nach Hause fahren , vielleicht einmal die Woche etwas einkaufen und dann wieder zu Hause sitzen. Abendessen und natürlich fernsehen, irgendwann wieder eine rauchen optional vielleicht ein Bier, dann ab ins Bett und am nächsten Tag - wer hätte es geglaubt? - exakt das gleiche Muster. Ohne Angst vor Veränderung.
Überraschungen vermeiden
Das ist kein erfundenes Beispiel. Ich kenne solche Menschen, gar nicht wenige übrigens, die genau diesem Muster folgen und auf den ersten Blick kein Ziel verfolgen. Tatsächlich aber tun sie es doch. Dieses Muster bietet einen großen Vorteil: Ich muss mich keiner Herausforderung stellen. Nicht mal der Herausforderung, Positives zu erfahren, angenehme Überraschungen zu machen, nette Menschen kennenzulernen oder die Erfahrungen zu machen: Wow, ich habe mich jetzt einer Herausforderung gestellt und hab tatsächlich einen Erfolg.
Das Problem mit dem Nicht-Können
Ich liebe Erfolg. Ich stehe total darauf und habe auch bemerkt, dass es innerhalb des Bereichs, den ich gut kenne, innerhalb meines Gesichtskreises, innerhalb der Gruppe von Menschen, die mir vertraut sind, die ich mag, nicht mehr so viele neue Herausforderungen gibt. Auch nicht innerhalb des Bereiches der Dinge, die ich schon kann. Innerhalb der Dinge, die mir vertraut sind, der Arbeitsgänge, die ich kenne. So geht's vielleicht auch manchem Azubi. Er eignet sich Dinge an, die er dann kann, und ist dann ganz froh, dass er sich nicht auf das Lernen konzentrieren muss. Auf die Erfahrung, oh, da gibt's was, das ich noch nicht kann. Ich persönlich versuche gerade, einem Vierjährigen das Fahrradfahren beizubringen und scheitere daran, dass er nach zwei Minuten merkt: „Ups, ich kann‘s noch nicht.“ Und dann verliert die Lust.
Lernen setzt Nicht-Können voraus
Lernen hat immer was damit zu tun, sich dem zu stellen, dass es etwas gibt, das ich noch nicht kann. Viele Menschen mögen das nicht. Ich beobachte das in Trainings mit Auszubildenden gar nicht mal so selten: Vielen Menschen haben große Probleme damit, vor sich selbst und vor allem vor anderen einzuräumen, „ups, da gibt es etwas, das ich nicht kann, ich bin nicht perfekt“. Ich zum Beispiel muss mich damit abfinden, dass dieser Podcast mit Sicherheit nicht so perfekt wird wie der nächste.
Zwei Pole - Arroganz und Zurückhaltung
Was ich immer wieder höre von Ausbildern und Personalern in großen Unternehmen hier in der Region und außerhalb, ist, dass es zwei Sorten von Azubis gibt, die große Schwierigkeiten bereiten: Die einen sind die, die so tun, als wüssten sie alles und die schon fast überheblich, manchmal sogar arrogant auftreten, die sich nichts sagen lassen, die Augen verdrehen und so tun, als hätten sie schon alles drauf - die die oberflächlichen Checker. Die anderen sind die, die unterm Radar fliegen, von denen die Ausbildungsleitung nach vier Wochen immer noch nicht weiß, heißt sie jetzt Sabine oder Simone? Und überhaupt: Wie geht's der jungen Frau? Oder wie geht's dem Bernd oder heißt er vielleicht doch Sven, weil von dem kriege ich ja gar nichts mit? Wann immer ich Aufgaben verteile, wann immer ich Jobs zu vergeben habe, tauchen die ab und sind nicht mehr zu sehen. Und wann immer ich frage, wie geht's dir, bekomme ich äußerst knappe - wenn überhaupt – Antworten. Ich weiß nicht, wie geht's der Simone oder Sabine oder dem Bernd oder Sven?
Die Angst, als Lernender entlarvt zu werden
Mit diesen Leuten umzugehen ist schwierig, weil wir nicht wissen, hey, wie geht's dir überhaupt. Die einen wollen sich zeigen, und die anderen nur auf eine bestimmte Art. Woher kommt das? Was viele Menschen nicht wissen, worüber viele Menschen stolpern, ist, dass Arroganz und Überheblichkeit sehr viel mit einem Gefühl zu tun haben über das wir nur sehr selten sprechen. In aller Regel hat es mit Angst zu tun. Wovor soll denn der Mensch, der so augenscheinlich selbstbewusst wirkt wie ein überheblicher Azubi, wovor soll der denn bitteschön Angst haben? Im Grunde habe ich die Antwort schon vorher verraten. Er hat Angst davor, als Lernender entlarvt zu werden, als ein Mensch, der noch nicht alles kann.
Das ist bei jungen Menschen heute gar nicht mal so selten, denn viele junge Menschen sind sehr - ich sage mal - verwöhnt damit, Anerkennung zu bekommen für ihren Außenauftritt. Ich sage nur Likes sammeln auf Facebook oder viele Freunde in Facebook oder Snapchat oder WhatsApp haben.
Schöner Schein in Social Media
Außendarstellung ist vielen jungen Leuten sehr wichtig. Das ist natürlich ein großer Gegensatz zu dem Akt, sich einer Herausforderung zu stellen. Oder zugeben zu müssen, da gibt es etwas, das ich nicht kann, das muss ich noch lernen. Das muss ich mir von dem Ausbilder, der im Zweifelsfall vielleicht sogar jünger ist als ich, erklären lassen. Ich kenne junge Leute, die damit große Probleme haben und so etwas als Schmach oder Demütigung empfinden. Da hilft es wenig, wenn ich als Azubi-Trainer vor sie hinstelle und ihnen sage, „Quatsch, ist keine Schmach, jeder fängt mal klein an“. Das wollen die nicht hören. Witzigerweise ist das Gefühl, das die Leisetreter und grauen Mäuse dazu bringt, unterm Radar durch zu fliegen und sich nicht zu zeigen, genau das gleiche. Diese Menschen haben Angst. Sie wollen sich nicht zeigen.
Raus aus der Bequemlichkeitszone
Was hat das jetzt mit unserem Thema Ziele haben zu tun? Ein Ziel zu haben hat für mich immer auch etwas mit Herausforderung zu tun. Ich suche mir Ziele, die mich fordern, die mir die Möglichkeit geben, Neuland zu erforschen. Also zum Beispiel das, was ich hier gerade tue, war vor einem Jahr noch totales Neuland für mich: einen Podcast zu sprechen. Das ist jetzt übrigens die Jubiläumsepisode, die zwölfte. Ich mache das jetzt seit einem Jahr. Wenn ich mir den Podcast von vor einem Jahr anhöre, merke ich, dass das Neuland war. Ich habe anders gesprochen, habe mich viel weniger getraut, habe mehr überlegt als dass ich spontan gesprochen hätte,. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich sehr häufig sogar abgelesen. Ich höre das, wenn ich in die alten Episode anhöre. Diese Epsiode ist anders, denn ich springe aus meiner Bequemlichkeitsbox raus, weil ich mir das Ziel gesetzt habe, dem zu folgen, was Gordon Schönwälder empfohlen hat: Vergiss das mit der Perfektion, hau raus!
Schmerzhafte Erfahrungen
Junge Leute die viel mehr in sozialen Medien unterwegs sind, haben sehr schmerzhafte Erfahrungen damit gemacht, was es bedeutet, sich zu zeigen und dafür auf die Mütze zu kriegen. Ich persönlich kann mir ja auch Ziele setzen, die ich nur für mich habe: Ich bin im Urlaub auf Kreta und sage mir, diesen einen Berg hier, den besteige ich ganz alleine ohne Karte, ohne Kompass. Manche würden sagen, das ist dumm, das ist Quatsch. Ich habe mich schon auf solche Dinge eingelassen und Großartiges dabei erlebt. Ich würde nicht empfehlen, allein auf Berge zu steigen. Da riskiere ich keinen Shitstorm, denn niemand kriegt es mit, aber ich riskiere mein Leben, denn ich kann da liegen bleiben und verdursten.
Das eigene Scheitern riskieren
Junge Menschen, die sich Ziele setzen, riskieren genauso wie ich und wie alle andern, dass sie scheitern. Das ist immanent, das gehört zu einem Ziel dazu. Es kann schiefgehen. Ich muss aus meiner Bequemlichkeitszone raus und mich diesem Risiko stellen. Ich habe aber auch nur eine Chance, Neues zu erleben, mir Neues zu erschaffen, Neues zu erfahren, indem ich diese Bequemlichkeitszone, diesen Bereich des bereits Bekannten, verlasse. Für junge Leute von heute ist das schwierig, weil sie damit aufwachsen, gerade in sozialen Medien einen Shitstorm zu riskieren und so gemobbt zu werden, dass sie sich vorkommen wieder letzte Arsch und auch Freunde zu verlieren, auch wenn es nur Facebook Freunde sind.
Der Angst vor Veränderung begegnen
Was es braucht, damit junge Menschen wieder Mut fassen und sich trauen, sich Ziele zu setzen, ist Fehlerkultur. Wenn Sie Ausbilder, Ausbildungsleiter oder Personaler in einem Unternehmen sind, ist - so wie ich glaube - die einzige Chance, junge Leute zu ermutigen, sich Ziele zu setzen, Ihnen auch das Vertrauen zu geben: „Hey, ich glaub an dich, auch wenn du Scheiße baust, auch wenn es schiefgeht. Ich glaub an dich, weil ich mir selbst auch zugestehe, immer wieder mal Fehler zu machen.“
Der Gewinn liegt im Risiko
Ehrlich: Wir lernen rein gar nichts, wenn wir nicht Fehler machen. Wir lernen aus den Fehlern, aber auch aus den aus dem Akt, sich diesem Risiko zu stellen. Für mich ist es immer wieder der Minimal-Gewinn, den ich habe, wenn ich mich einer Herausforderung stelle. Selbst im Scheitern weiß ich, ich hab's probiert, ich hab's getan. Ich will keiner sein, der immer dem gleichen Muster folgt, morgens zur Arbeit fährt, abends von der Arbeit kommt und dazwischen immer nur das gleiche erlebt. Für mich ist es o. k., wenn Menschen das tun, solange sie glücklich damit sind. Ich wäre es definitiv nicht.
Warum wir Ziele brauchen
Ich bin ein Mensch, der Ziele braucht. Ich habe mich oft in Coachings mit Männern dabei ertappt, dass ich sage, ein Mann braucht ein Ziel. Und wenn es nur aus dem Grund ist, dass die Frau irgendwann zickig, närrisch oder verrückt wird, wenn sie merkt, sie lebt mit einem Mann zusammen, der sich keiner Herausforderung stellt. Ein Mann ohne Ziel, behaupte ich, ist schwer zu ertragen. Jeder, der sich keiner Herausforderung stellt, der sich nicht weiter entwickeln will, der nicht wachsen will, wird irgendwann schlicht und ergreifend langweilig.
Fehler machen dürfen
Die große Chance, die Unternehmen und damit auch Ausbilder und Personaler haben, ist: Sie können jungen Menschen, die im Mobbing-Shitstorm-Zeitalter aufwachsen, eine Plattform bieten, auf der sie gesehen werden mit dem, was sie können mit dem was sie noch nicht können. Aber auch mit dem Mut, den sie entwickeln, indem sie sich auf Neues einlassen. Und für diesen Mut brauchen Sie Vertrauen und mindestens einen Menschen der Ihnen zugesteht: „Hey, du darfst Fehler machen.“
Ziellos gibt es nicht
So wie ein Kind. Kinder lernen laufen nicht, indem sie es von Anfang an können, sondern indem sie - keine Ahnung - hunderte Male auf ihren Hintern fallen. Und was tun Kleinkinder? Sie stehen wieder auf. Es ist völlig normal, dass ich nicht kann, was ich lernen will. Das bedingt sich. Wenn Menschen sich diesem Risiko nicht stellen wollen und keine Ziele verfolgen, haben Sie ein Ziel. Am Anfang dieser Podcast-Episode habe ich angedeutet, dass ich darüber auch sprechen möchte, und das werde ich jetzt tun. Ziellose Menschen gibt es in Wirklichkeit nicht. Menschen verfolgen immer ein Ziel, man könnte auch sagen eine Absicht. Die Absicht von meinem Paradebeispiel, das ich eingangs geschildert habe, also diesen Menschen, die scheinbar kein Ziel verfolgen, wenn sie immer nur alles innerhalb ihrer Bequemlichkeitszone machen, immer nur ihren alten Muster Folgen, dieses Ziel ist: Ich lasse alles so, wie es ist. Dann muss ich kein Scheitern erleben, keine Blamage, keinen Schmerz.
Wachstum vermeiden
Ob wir es glauben oder nicht - das ist auch ein Ziel. Es ist nur ein Ziel, das uns immer in unserer Bequemlichkeitszone hält. Und in der Bequemlichkeitszone findet nun mal keinerlei Wachstum statt. Da gibt's nichts, wofür ich Mut brauche, wo ich etwas Neues lernen, wo ich mich weiter entwickeln kann. Ich behaupte, das ist nicht das, was Unternehmen von Azubis wollen. Das ist auch nicht das, was Lehrer von Schülern wollen.
Die Chance für Unternehmen
Was wir aber begreifen müssen ist, wenn wir diesen Menschen, die eigentlich täglich in der Social-Media-Shitstorm-Gefahr leben, wenn wir diesen Menschen den Mut ermöglichen wollen, sich Neuem zu stellen, brauchen Sie das Vertrauen, dass sie uns gegenüber auch Fehler machen dürfen. Ohne sich blamieren zu müssen, ohne ausgelacht zu werden, ohne bestraft zu werden. Wenn Unternehmen das tun, behaupte ich, haben sie die Riesenchance, als das begriffen zu werden, was diesen jungen Menschen fehlt: als eine Art Zuhause, als Ort, wo sie gesehen werden und wachsen dürfen.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2017