Willkommen bei Great Growing Up, dem Podcast für Beziehungskompetenz im Business. Heute geht es um die Art und Weise, wie Menschen sich in Great Growing Up Trainings von alten Verhaltensmustern verabschieden und sich auf ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten einlassen. Am einfachsten geht das mit einer durch und durch unbeliebten Methode: Rollenspiele - unbeliebt, aber effektiv.
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Kaum einer mag Rollenspiele
Kaum jemand mag Rollenspiele. Außer vielleicht Trainer und Seminarleiter, die sie anleiten, aber nur ganz selten selbst mitspielen, könnte man einwenden. Wie dem auch sei, Rollenspiele gelten vielen als albern und unrealistisch. Vielen Menschen sind sie ganz und gar nicht behaglich, und viele haben Angst sich zu blamieren.
Gespielt ist halb gewonnen
Tatsache ist aber, dass Rollenspiele eine sehr effektive Lernmethode sind. Das hat damit zu tun, dass unser Gehirn zwar hochentwickelt ist, sich aber immer noch schwer tut, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Doch dazu später mehr. Ich nutze Rollenspiele sehr gerne und habe in meinen Trainings sehr viele Teilnehmer erlebt, die sich zunächst geziert, sich dann aber völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten erschaffen haben.
Ein Beispiel vom Bau
Ein Beispiel aus der Praxis: Stefan ist Polier auf dem Bau. Er führt eine kleine Kol nne und kommt mit seinen Männern ganz gut klar. Der Umgangston ist branchenüblich rau, aber herzlich. Man kennt sich gut, und jeder weiß um die Eigenarten des anderen. Nur mit Paul,kommt Stefan nicht klar.
Schlamper in der Kolonne

Stefan ist Teilnehmer des Great Growing Up Kommunikationstrainings für Poliere und schildert sein Problem in der Gruppe. Paul bringt ihn regelmäßig auf die Palme, sagt Stefan. Er ist notorisch unpünktlich und räumt sein Werkzeug so gut wie nie auf. Natürlich habe er ihm schon mehrmals gesagt, was er von ihm erwarte, beteuert Stefan. Aber immer ohne Erfolg. Stefan hat einen Schlamper in seiner Kolonne und weiß nicht mehr weiter.
Resignation
Ich frage Stefan, ob er mutig genug sei, für ein Experiment. Er zögert. Er habe doch schon alles versucht, das bringe doch alles nichts, sagt er und will aufgeben. Stefan ist sich nicht darüber im Klaren, dass er sich gerade genauso verhält, wie im Gespräch mit Paul. Noch nicht.
Zögern
Ich bitte Stefan, einen Teilnehmer auszuwählen, der Pauls Rolle einnehmen könnte. Stefan windet sich, er sucht nach Ausreden, um die Konfrontation zu meiden. Er wolle die Aufgabe eigentlich gar nicht machen, sagt er. Seine Worte „eigentlich nicht“ sind kein klares Nein, also frage ich ihn, ob er die Frage „Magst Du ein Experiment machen?“ mit Ja oder Nein beantworten kann. Das kann Stefan. Er sagt Nein, und wir belassen es dabei. Rollenspiele - unbeliebt, aber effektiv - warum, erkläre ich gleich.
Noch ein Beispiel
Ein anderer Teilnehmer, Christoph, meldet sich zu Wort mit einem ganz ähnlichen Problem. Es geht um zwei Auszubildende, die bei jeder Gelegenheit auf ihre Smartphones starren. Während der Arbeitszeit wohlgemerkt. Ich stelle Christoph vor die gleiche Aufgabe wie Stefan. Er wählt zwei Kollegen aus, die seine beiden Azubis spielen sollen.
Immer am Handy

Die beiden gespielten Azubis machen ihren Job gut. Sie spielen mit ihren Handys, anstatt zu arbeiten. Christoph schaut zu. Ich fordere ihn auf, mit den Azubis zu sprechen. Der erste Anlauf geht schief. Christoph redet zwar, aber die beiden Azubis hören ihm nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit bleibt bei ihren Handys. Christoph probiert es noch einmal – ohne Erfolg.
Wenn der Kragen platzt
Einem von Christophs Kollegen allerdings platzt der Kragen. Er fühlt, was Christoph verdrängt: Ärger. „Nimm dir beiden richtig zur Brust“, fordert er Christoph auf. Der versucht es, und scheitert wieder. Ich frage Christoph, was er fühlt. Nichts Gutes, antwortet er, weiß aber nicht genau, was er fühlt.
Sagen, was Sache ist
Wir machen es ihm einfach und gehen per Ausschlussverfahren vor: Freude ist es nicht, Angst und Trauer auch nicht. Also bleibt nur Ärger. Ich schlage Christoph vor, seine Azubis gezielt anzusprechen und den Augenkontakt mit ihnen zu halten. Erst dann soll seinen Ärger äußern und sagen, was Sache ist.
Klartext
Christoph atmet tief durch und legt los: Er nennt seine Azubis beim Namen, stellt Blockkontakt her und sagt klipp und klar, was ihn ärgert. Die beiden Azubis sind baff und stecken ihre Smartphones weg. Die umstehenden Teilnehmer applaudieren beeindruckt. Rollenspiele - unbeliebt, aber effektiv.
Zweiter Versuch

Stefan meldet sich jetzt und sagt, er wolle noch einen Versuch unternehmen. Christophs Entwicklung hat ihn ermutigt. Ich bitte ihn, einen Stellvertreter für seinen Mitarbeiter Paul auszuwählen. Aber Stefan kann sich partout nicht entscheiden. Es wird Zeit für einen Umweg. Ich bitte Stefan, stattdessen einen Menschen im Raum auszuwählen, der auf ihn bedrohlich wirkt. Er wählt mich.
Grenzen setzen
Ich erkläre Stefan die Aufgabe: Ich werde auf ihn zu gehen und erst stoppen, wenn sein „Stop!“ so deutlich ist, dass ich impulsiv stehenbleibe. Ich gehe los, nicht besonders flott, aber entschlossen. Stefan reagiert spät. „Bleib bitte dort sehen“, sagt er und blickt auf die Stelle auf dem Fußboden, auf die auch sein rechter Zeigefinger deutet. Noch ehe er seine Bitte beendet, stehe ich direkt vor seiner Nase. Viel zu nah, um angenehm zu sein.
Provokation im Rollenspiel
Stefan spürt seinen Ärger nicht. Ich frage, ob ich anfassen darf. Er ist einverstanden. Ich tippe ihm in schneller Folge mit meinem Zeigefinger auf die Brust. Stefan unternimmt nichts. Ich frage ihn, ob ihm gefällt, was ich tue. Stefan sagt Nein. Ich fordere ihn auf, etwas dagegen zu unternehmen. Urplötzlich packen zwei starke Bauarbeiterhände meine Unterarme.
Handgreiflich
Stefans Griff ist mehr als nur ein starker Impuls. Sein Griff bleibt so fest, dass es beinahe weh tut. Aber er sagt kein Wort. So stehen wir eine Zeit lang voreinander. Ich frage Stefan, was er fühlt. Keine Ahnung, sagt er, aber sein Blick spricht Bände. Ich frage Stefan, ob er sich noch an die zu Beginn des Trainings vorgestellten vier Grundgefühle erinnert.
Alle wissen Bescheid
Klar sagt Stefan und zählt auf: Trauer, Freude, Angst und… und… Das vierte Grundgefühl will ihm partout nicht einfallen. Wie auch, wo er doch so viel dafür tut, um es zu verdrängen. Die umstehenden Teilnehmer wissen längst Bescheid: Stefan ärgert sich. Nur Stefan weiß es nicht.
Wie Verdrängung funktioniert
Es dauert ein wenig, bis er den Gedanken zulässt. Das ist oft so: Wenn wir ein Gefühl verdrängen, wollen wir nicht darüber reden. Unsere Verdrängung kann durchaus so wirksam sein, dass uns nicht einmal der Name des betreffenden Gefühls einfallen will. Schließlich ist genau das ja auch Sinn und Zweck von Verdrängung.
Angst vor Kontrollverlust
Stefan weiß jetzt, dass er ärgerlich ist, aber sprechen will er dennoch nicht darüber. „Ich will nicht, dass ich ausraste und dann handgreiflich werde“, sagt er. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass er bereits handgreiflich geworden ist, indem er meine Unterarme gepackt hat. Stefan staunt und lässt los. Rollenspiele - unbeliebt, aber effektiv.
Handgreiflich
Jetzt geht es darum, auszusprechen, was ohnehin offensichtlich ist: den Ärger. Aber Stefan tut sich schwer damit. Er erklärt, dass er mein Verhalten blöd findet. Das gibt mir Gelegenheit, ihm zu erklären, wie wichtig mein ständiges Gestupse mit den Fingern auf seiner Brust ist. Ich will ich darin unterstützen, etwas Wichtiges zu lernen: für sich einzustehen und Grenzen zu setzen, ohne dabei handgreiflich zu werden.
Wie Klarheit wirkt
Stefan schweigt wieder. Also stupse ich weiter auf seiner Brust herum. Irgendwann wird es Stefan dann zu blöd. Er schaut mir in die Augen und sagt: „Matthias, das ärgert mich. Hör auf mich anzustupsen!“ Stefans Blick hält mich fest. Ohne einen bewussten Entschluss zu fassen, höre ich damit auf, ihn zu ärgern.
Entschlossener als zuvor
Die Teilnehmer klatschen Beifall. Ihnen fällt auf, dass sich Stefans Gesichtsausdruck verändert hat. Er wirkt entschlossener als zuvor. Und Stefan ist tatsächlich entschlossener als zuvor: Die Frage, ob er ein weiteres Experiment machen wolle, beantwortet er mit einem klaren Ja. Und ohne zu zögern wählt er seinen Sparringspartner aus.
Klare Ansage im Rollenspiel
Einer seiner Kollegen spielt nun Paul, der oft zu spät kommt und sein Werkzeug nur selten aufräumt. Und Stefan? Der spricht jetzt Klartext: „Paul, wir müssen was besprechen“, sagt er und fährt fort: „Du bist heute erst um 10 nach 7 auf der Baustelle erschienen, obwohl du weißt, dass wir um Punkt 7 beginnen. Das ärgert mich. Ich möchte, dass du ab morgen pünktlich um 7 mit der Arbeit beginnst. Und du machst erst Feierabend, wenn all dein Werkzeug aufgeräumt ist. Hab‘ ich mich klar ausgedrückt?“
Beifall für Stefan
Hat er. Der gespielte Paul ist baff und sagt: „Ja, Chef.“ Mehr nicht. Jetzt kann man einwenden, dass so ein Rollenspiel ja nicht die Realität sei. Tatsächlich höre ich diesen Einwand oft von Menschen, die sich nicht auf ein Rollenspiel einlassen wollen. Tun sie es aber doch, geht es ihnen wie Stefan: Der Polier hat sich auf eine völlig neue Art erlebt: Klar und entschlossen. Wie kam es dazu?
Warum Rollenspiele wirksam sind
Rollenspiele - unbeliebt aber effektiv? Rollenspiele sind zunächst einmal nicht sehr beliebt. Viele Menschen halten sie für albern oder unrealistisch oder beides. Ich glaube dennoch an ihren Nutzen. Ich schätze das liegt daran, dass unser Gehirn nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheidet. Unser Bewusstsein kann das, unser Gehirn nicht. Anders wäre kaum zu erklären, warum wir einen Film so spannend finden, dass wir mitfiebern oder einen Albtraum so schrecklich finden dass wir nassgeschwitzt aufwachen.
Vertraute Situation
Bei einem Rollenspiel geschieht im Prinzip das Gleiche: Wir erleben eine vertraute Situation, und unser Gehirn sowie unser Körper reagieren darauf so, als wäre das Rollenspiel Realität. Wir sind zwar wach und bei Bewusstsein, aber das Repertoire unserer Verhaltensmuster bleibt dasselbe.
Fake it until you make it
Was mir daran besonders gefällt, ist, dass das auch in umgekehrter Reihenfolge funktioniert: Immer wenn Teilnehmer einwenden, dass sie ihre neue Verhaltensweise im Rollenspiel nur gespielt sei, ermuntere ich sie, genau das zu tun: Dann spiel sie eben. Für das Gehirn macht das keinen Unterschied, denn der Teilnehmer erlebt sich auf eine neue Art und macht damit kognitiv wie emotional eine neue, wichtige Erfahrung. Rollenspiele - unbeliebt, aber effektiv.
Keiner blamiert sich
Der Vorteil vom Rollenspiel liegt auf der Hand: Die Rückmeldungen der Beobachter liefern uns neue Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist ein Gewinn, für den es sich lohnt, das Risiko peinlichen Scheiterns auf sich zu nehmen. Und: Ich habe noch nie erlebt, dass sich jemand in einem Rollenspiel blamiert.
Tanz auf der Nase beendet
Das Schöne an diesem Setting ist: man kann nichts falsch machen, nur gewinnen. Ich kenne unzählige Teilnehmer, die mir nach dem Training mitgeteilt haben, dass sie jetzt in der Lage sind, Klartext zu reden und Grenzen zu setzen. Keiner tanzt ihnen mehr auf der Nase herum. Und das, ohne handgreiflich zu werden oder auszurasten. Wer Klartext spricht und Grenzen setzt, hat keinen Grund auszurasten.
Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.
© Matthias Stolla 2020