Erwachsen werden – Zum Beispiel beim Bund

Erwachsen werden – Was bedeutet das?

Menschen beim Erwachsen werden zu unterstützen ist der wesentliche Bestandteil von Ganzheitlicher Ausbildung. Dahinter steckt die Idee, junge Menschen am Anfang ihres Berufslebens nicht nur fachlich auszubilden, sondern sie bei ihrer Entwicklung zum erwachsenen Menschen hilfreich, sinnstiftend und zielführend zu fördern und zu fordern. Sie so zu begleiten, dass aus Jugendlichen Erwachsene werden. Viele Unternehmen haben das längst begriffen und unternehmen unglaublich viel, um genau diesen Weg zu gehen. Nur sehr wenige sind sich allerdings darüber im Klaren oder haben sich überhaupt Gedanken darübergemacht: Was bedeutet denn eigentlich Erwachsen sein?

Eigene Erfahrung

Als ich angefangen habe darüber nachzudenken, stieß ich natürlich auf Begriffe wie Volljährigkeit oder Führerschein oder Wahlrecht. Und je älter ich wurde und andere sowie mich selbst beobachtet habe, desto deutlicher wurde mir, dass Erwachsen werden, Erwachsensein mit all dem überhaupt gar nichts zu tun hat. Erwachsenwerden hat nichts mit

  • Volljährigkeit
  • Wahlrecht,
  • Führerschein,
  • und mit der magischen Zahl 18 zu tun.

Erwachsen werden beim Bund

Erwachsen werden beim Bund. Hauptmann Hans Harald Brandel.
Hauptmann Hans Harald Brandel leitet die Büros für Karriereberatung der Bundeswehr in Stuttgart und Heilbronn.

Erwachsen werden ist etwas ganz anderes. Und weil ich einfach mal wissen wollte, was Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, darunter verstehen, habe ich einen gefragt, der es wissen muss: einen Soldaten. Hauptmann Hans Harald Brandel von der Bundeswehr. Der leitet die Büros für Karriereberatung in Stuttgart und Heilbronn. Was genau machen die denn da?

Hans Harald Brandel: „Wir sind für die jungen Leute, die Interesse an der Bundeswehr als Arbeitgeber haben, zuständig. Wir geben jedem, der diese Information möchte, die Laufbahn und Arbeitsmöglichkeiten weiter. Und betreuen auch die Interessenten bei der Bewerbung.“

Erwachsensein ist etwas anderes…

Hauptmann Brandel und seine Kameraden kümmern sich darum, dass junge Interessenten erfahren, welche Möglichkeiten ihnen die Bundeswehr in Sachen Karriere und Erwachsen werden bietet. Als ich Jugendlicher war, habe ich einen Satz gehört, den ich nicht sehr mochte. Der ging ungefähr so: „Geh du mal zur Bundeswehr, da wirst du ein Mann!“ In die heutige Zeit mag dieser Satz nicht mehr so richtig reinpassen. Inzwischen gehen ja auch Frauen zur Bundeswehr. Also müsste er vielleicht so lauten: „Geh du mal zur Bundeswehr, dann wirst du erwachsen!“ Frage an Hauptmann Brandel: Was macht überhaupt einen erwachsenen Menschen aus?

Hans Harald Brandel: „Also grundsätzlich würde ich sagen, was für einen Erwachsenen wichtig ist, ist ein hohes Maß an Selbst- und Eigenverantwortung. Der Unterschied vom Erwachsenen zum Kind macht für mich aus, dass man weiß: Wo will ich hin, was sind meine Ziele? Wie erreiche ich die und wie kann ich meine Stärken bestmöglich einsetzen und an meinen Schwächen arbeiten oder versuchen die zu verringern?“

Was jungen Menschen heute fehlt

Viele Ausbilder und Personaler in Unternehmen haben genau das gleiche Wunschprofil an ihre Azubis. Und weil sie darin so oft enttäuscht werden, höre ich, wann immer ich mich mit Personalern oder Ausbildern unterhalte, die selbe Klage. Dann heißt es,  in der Masse fehlt den jungen Leuten Mut, Herausforderungen anzugehen, Eigenverantwortlichkeit, Selbstständigkeit und ein Bewusstsein für die eigenen Stärken und Schwächen.

Wie ist es mit den Interessenten, die sich bei Hans Harald Brandel melden und sich über Karrieremöglichkeiten bei der Bundeswehr informieren?

Hans Harald Brandel: „Also wenn man zuerst aufs Positive eingeht, was viele junge Leute heutzutage meiner Erfahrung nach mitbringen, ist auf jeden Fall ein recht hohes Maß an Selbstbewusstsein. Viele jungen Leute sind durchaus offen und zielstrebig, sich erstmal grundsätzlich Infos zu holen. Aber auf der anderen Seite, was ich oft feststellen muss, ist, dass sie sich selbst wenig eigenverantwortlich informieren. Also man muss sehr, sehr viele Informationen weitergeben. Obwohl es Internet und alle Möglichkeit der Information heute gibt, werden die bei der Jobsuche und auch später, nicht so genutzt, wie uns das recht wäre.“

Was bedeutet Verantwortung?

Kurz zusammengefasst bedeutet das, so mancher junger Bundeswehr-Interessent lässt sich seine Informationen lieber servieren, als dass er auf eigene Verantwortung im Internet danach sucht. Apropos Verantwortung. Was bedeutet das denn?

Hans Harald Brandel: „Ja, also Verantwortung auf jeden Fall erstmal für sich selbst zu übernehmen. Ich sag mal, selbstbewusst zu dem stehen, was man tut. Auch Verantwortung für andere übernehmen können. Die Bundeswehr hat ja als der Verteidiger Deutschlands eine sehr, sehr wichtige Aufgabe. Diese Aufgabe muss man sich auf jeden Fall stellen wollen. Herausforderung suchen können, Herausforderung annehmen können.“

Unter der Lupe betrachtet

In Hauptmanns Brandels Antwort stecken jede Menge interessanter Aspekte. Da lohnt es sich, die genau unter die Lupe zu nehmen. Zu dem stehen, was man tut. Verantwortung für andere übernehmen. Eine Aufgabe übernehmen, Herausforderungen annehmen. Das sind Worte, bei denen es manchem Ausbilder warm ums Herz wird, weil er sich genau das von seinen Azubis wünscht. Aber was genau bedeutet denn Verantwortung?

Zwei wichtige Fragen

Ich habe mir das Wort mal genauer angeschaut und dann festgestellt, dass in Verantwortung ein Wort steckt: Antwort. Und dann habe ich mir überlegt, eine Antwort braucht auch immer eine Frage, mindestens eine. Und zwei Fragen sind mir eingefallen, die das Thema Verantwortung sehr konkret beschreiben. Die erste Frage, die ich mir stelle, wenn ich Verantwortung übernehme, lautet:

  • Wie habe ich dazu beigetragen, dass wurde, was ist?

Anders formuliert: Was ist mein Beitrag zur gegenwärtigen Situation?

Die zweite Frage, die ich mir stelle, wenn ich Verantwortung übernehme, lautet:

  • Was tu ich damit die Situation besser wird?

Im Bundeswehr-Kontext bedeutet das, ich übernehme eine Aufgabe, ich leiste einen Dienst. Früher hieß es ja mal Wehrdienst. Ich sorge dafür, dass ich meinen Beitrag so leiste, dass die Aufgabe erfolgreich erledigt wird.

Verantwortung contra Schuld

Erwachsen werden beim Bund. Great Growing Up.
Die Bundeswehr bietet Herausforderungen. Auch den Umgang mit Angst.

Und jetzt kommt ein ganz wichtiger Punkt, den wir bei Verantwortung gerne übersehen. Verantwortung bedeutet auch, ich stehe dafür ein, wenn ich Fehler mache, wenn ich scheitere oder sogar versage. Das zu lernen gehört zum Erwachsen werden dazu allein ist für viele Menschen schon eine große Herausforderung. Wir haben in der Regel nicht gelernt, zwischen Verantwortung und Schuld zu unterscheiden. Wir werfen Schuld und Verantwortung gerne in einen Topf. Und das ist nicht hilfreich.

Wichtige Unterscheidung

Ich empfehle folgende Unterscheidung: Schuld führt zur Strafe, Verantwortung führt zur Entwicklung. Denn – Erinnerung - ich stelle mir, wenn ich Verantwortung übernehme, zwei Fragen.

  1. Was war mein Beitrag, damit wurde was ist?
  2. Was tue ich, damit es besser wird?

Angst vor Fehlern

Die Angst vor dem eigenen Scheitern, die Angst davor, Fehler zu machen ist im Übrigen exakt das gleiche Gefühl, wie die Angst davor, körperlich verletzt oder gar getötet zu werden. Lediglich die Intensität der Angst mag mal höher, mal niedriger sein. Das Gefühl ist ein und dasselbe: Angst. Wie geht eigentlich die Bundeswehr mit diesem, meist unpopulären, Gefühl Angst um?

Hans Harald Brandel: „Ja, was heißt Angst vor der Herausforderung? Unser Aufgabengebiet ist natürlich kein ungefährliches. Die Bundeswehr ist der Arbeitgeber, der in die Krisen- und Konfliktregionen geht, dort seine Einsätze durchführt. Aber wir versuchen, die Leute auch immer stressresistenter zu machen. Das erreichen wir klar auch durch eine harte, anstrengende Ausbildung. Aber man wird da auch ganz stark angeleitet. Bei der Bundeswehr lernt man viel, was man auch später für das Leben gebrauchen kann. Was gerade den Umgang mit Stress, den Umgang mit Neuem und Unerwartetem anbelangt, vor allem hohe Flexibilität. Das ist das, was wir ihnen beibringen. Kein Meister ist vom Himmel gefallen, man muss nicht unbedingt alles schon haben. Aber bei uns in der Ausbildung wird da schon dafür gesorgt, dass man lernt, mit Neuem und in erster Linie vielleicht Schwierigem, Anstrengendem klar zu kommen.“

 Scheitern gehört zum Lernen

Erwachsen werden beim Bund. Great Growing Up.
Ausbildung beim Bund hat viel mit Verantwortlichkeit zu tun.

Herausforderungen annehmen, mit Neuem, vielleicht Schwierigem klar kommen, das ist etwas, das nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für das Anforderungsprofil vieler Unternehmen an ihren beruflichen Nachwuchs gilt. Junge Leute, so wünschen sich das Ausbilder und Personaler, sollen mit Freude und mit Mut an Herausforderungen, an Neues herangehen. Sie sollen lernen, am besten lebenslang.

Dazu muss man wissen, das Lernen auch immer etwas mit Nicht können zu tun hat. Wann immer ich etwas lernen will, muss ich mich damit konfrontieren, dass ich jetzt etwas übe, das ich noch nicht kann. Ich muss damit rechnen, dass ich zunächst mal scheitere, dass ich Fehler mache. Das gehört zum Lernen - und zum Erwachsen werden dazu, wie das Atmen zum Leben. 

In der Komfortzone

Das mag in manchen Ohren gaga klingen, aber ich bin überzeugt, dass es dennoch Sinn ergibt. Viele Menschen haben derart Angst davor, Fehler zu machen, dass sie alles tun, um dieses Gefühl zu vermeiden. Der einzige Weg, dieses Gefühl aus meinem Leben auszuschließen ist, Herausforderungen, Neues und das Lernen zu umgehen. Das heißt, ich entscheide mich dafür, in meiner Bequemlichkeitszone zu verharren, tue nur noch das, was ich sicher kann. So umgehe ich Angst davor, Fehler zu machen, zu versagen und zu scheitern. Das ist bequem und im Grunde auch etwas langweilig. Aber tatsächlich ist es der einzige Weg, dieses unpopuläre Gefühl Angst zu umgehen.

Ich glaube, junge Menschen haben einen großen Vorteil davon, wenn sie ganz bewusst dieses Gefühl akzeptieren und lernen, dass es nichts Schlimmes ist, Angst vor dem Scheitern, vor dem Versagen zu haben, sondern, dass ich, wenn ich bewusst damit umgehe, immer die Möglichkeit habe, selbst zu entscheiden. Ich entscheide, ob ich mich auf das Lernen und damit auch auf das etwaige Scheitern und das eventuelle Versagen einlasse, ich entscheide es und nicht meine Angst.

Der Umgang mit Angst

Viele Soldaten bei der Bundeswehr müssen nicht nur mit der Angst vor dem Scheitern leben, sondern auch mit der Angst davor, im Einsatz verletzt oder gar getötet zu werden. Wie gehen sie damit um?

Hans Harald Brandel: „Ja, natürlich, klar, wir verneinen das nicht, wir verschweigen das nicht. Bei uns gibt’s immer eine gewisse Gefahr, ein gewisses Berufsrisiko für die eigene Gesundheit. Aber durch eine professionelle Ausbildung mit dem eigenen Material, mit der eigenen Ausrüstung und auch zusammen mit den eigenen Kameraden, da sind wir natürlich immer bestrebt, das Risiko für den einzelnen so weit wie möglich zu reduzieren.“

Umgang mit Risiko

Das ist klar und verständlich. Niemand will verletzte oder gar tote Soldaten. Insofern hat es durchaus Sinn, wenn die Bundeswehr bemüht ist, das Risiko ihrer Mitarbeiter, ihrer Soldaten so gering wie möglich zu halten. Ebenso klar und verständlich sollte allerdings auch sein, dass ein gemindertes Risiko Angst nicht ausschließt. Das wäre auch gar nicht gut, denn Angst ist ein durchaus hilfreiches Gefühl, das mich aufmerksam und konzentriert macht. Das dafür sorgt, dass ich die Augen aufhalte und schaue, welcher Gefahr ich mich tatsächlich aussetze. Im Grunde ist Angst das ideale Gegenmittel zu Leichtsinn. Wer also junge Leute ganzheitlich ausbilden und sie beim Erwachsen werden begleiten will, tut gut darin, wenn er sie auch darin trainiert Angst auszuhalten und Herausforderungen anzunehmen und sie dann auch zu bewältigen, zu bestehen.

Ein Unternehmen, das junge Menschen darin trainiert, Herausforderungen anzugehen, mit der Angst bewusst umzugehen, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ist auf dem besten Weg, junge Menschen darin anzuleiten erwachsen zu werden.

Beim Bund erwachsen werden

Bei der Bundeswehr scheint man sich dessen bewusst zu sein, wenn gleich Angehörige wie Hans Harald Brandel nahezu naturgemäß lieber von Stress als von Angst sprechen. Der Leiter der Karriereberatungsbüros in Stuttgart und Heilbronn sieht vor allem drei Eigenschaften, die sich junge Menschen in ihrer Zeit bei der Bundeswehr aneignen.

Hans Harald Brandel: „Also die drei Eigenschaften, die die meisten wahrscheinlich bei der Bundeswehr lernen, ist erstmal Selbstständigkeit. Selbstständiges Arbeiten und Mitdenken bei der Arbeit ist bei uns ganz wichtig. Natürlich auch eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischen und körperlichen Anstrengungen, also Resistenz gegen Stress. Und ich sag mal, was man bei uns auf jeden Fall lernt, ist auch Sportlichkeit und Fitness. Ich persönliche sage immer, der alte Spruch „In einem gesunden Körper lebt ein gesunder Geist“ der trifft auf jeden Fall zu, und das lernt man bei uns.“

Andere Möglichkeiten

Das bedeutet übrigens nicht, dass junge Menschen zwingend zur Bundeswehr müssen, um erwachsen zu werden. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Ich zum Beispiel hab Ende der achtziger Jahre meinen Zivildienst abgeleistet und dort jede Menge Herausforderungen erlebt und auch bewältigt. Und ich bin sehr dankbar dafür, weil ich weiß, dass ich nur durch diese Herausforderungen zu dem geworden bin, was ich heute bin.

Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.

Mehr dazu finden sie auf meiner Website www.greatgrowingup.com.

© Matthias Stolla 2017