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Ganzheitlich ausbilden - warum eigentlich?

Ausbildung in Deutschland genießt einen guten Ruf. Gerade auch international. Sie ist bekannt für ihr fachlich hohes Niveau und kann sich mit allem messen, was ausbildungsmäßig draußen unterwegs ist. Und dennoch gibt es Unzufriedenheit. Viele Unternehmen haben erkannt, es braucht mehr. Von sozialer Kompetenz ist die Rede, manche sprechen sogar schon von emotionaler Intelligenz. Das sind vornehme Vokabeln, die in Zusammenhang stehen mit einem Mangel, der sich in meist weniger vornehmem Verhalten manifestiert.

Ich komme viel herum. Ich spreche mit Ausbildern, mit Personalern, mit Unternehmern und Inhabern von Ausbildungsbetrieben, die zwischen 20 und 60.000 Mitarbeiter haben. Dabei fällt mir beim Thema Auszubildende eines auf: Die Klagen ähneln sich. Es geht um Unzufriedenheit über mangelhafte schulische Leistungen, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit werden vermisst. Die jungen Leute, so heißt es, haben keine Selbstdisziplin, ihnen fehlt es an Präsenz. Sie sind oft gedankenlos, sie haben keinen Mut, dafür einzustehen, was sie brauchen. Sie sind nicht begeisterungsfähig, können nicht klar Ja und nicht klar Nein sagen. Es fehlt Ihnen an Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber dem, was der Ausbildungsbetrieb ihnen zu Verfügung stellt, sie haben keinen Respekt, sind nicht loyal, und es fehlt Ihnen an Umgangsformen. Vor ein paar Wochen war ich mit einem älteren Hohenloher Unternehmer unterwegs, der mir folgendes erzählt hat:

„Wissen Sie, Herr Stolla, manchmal wenn ich so durch den Betrieb gehe, komme ich zu so einem jungen Kerl, der dasteht mit den Händen in der Hosentasche. Und alles, was der zu mir sagt ist: Hi.“

Das haben auch schon ganz andere beobachtet. Ein Zitat:

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus: Sie hat schlechte Manieren, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn ältere das Zimmer betreten, sie widersprechen ihren Eltern schwadronieren in der Gesellschat, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“

Vielleicht haben Sie das ja schon mal gehört. Sokrates hat es gesagt, der griechische Philosoph vor mehr als 2400 Jahren. Es scheint also, als hätte sich unsere Wahrnehmung der jeweiligen Jugend nicht allzu sehr verändert. Aber die Anforderungen in den Ausbildungsbetrieben sind nicht mehr die von früher. Unternehmen wollen Auszubildende, die in der Lage sind, ihre emotionalen Befindlichkeiten wahrzunehmen und verantwortungsvoll damit umzugehen. Sie wollen Auszubildende, die ihre Bedürfnisse proaktiv äußern können, also bevor sie gefragt worden sind. Und sie wollen Auszubildende, die wissen, dass sie für ihre Entscheidungen selbst verantwortlich sind. Denn nur so werden sie zu Mitarbeitern, die ihre emotionalen Befindlichkeiten äußern und damit aus dem Weg und zudem Raum für die Sachebene, also für die Arbeit, schaffen können. Und sie werden zu Mitarbeitern, die ihr privates Umfeld so gestalten, dass es funktioniert, und genau deshalb gerne und dankbar in Unternehmen präsent sind.

Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, dass es auch Unternehmen gibt, die genau das nicht wollen. Denn hin und wieder, wenn ich unterwegs bin und Gespräche führe mit Personalern und Ausbildern, finde ich mich in Situationen wieder, in denen mir ein Personaler bei jedem dritten Satz erklärt: „Ja, das wissen wir schon. Ja, das machen wir schon. Ja, damit haben wir kein Problem.“ Manchmal glaube ich das auch, weil meine Wahrnehmung im jeweiligen Unternehmen dem entspricht.

Manchmal sitzt neben diesen Personaler aber ein Ausbilder, der sich überhaupt nicht am Gespräch beteiligt, am liebsten ganz woanders wäre und, wenn ich ihn anspreche, erst mal erschrickt, dann den Personaler anschaut und dann - vielleicht - Antwort auf meine Frage gibt. Spätestens dann weiß ich auch, warum ich beim Gang durch die Lehrwerkstatt oder durch die Ausbildungsabteilung so niedergedrückt war. Weil dort Auszubildende saßen, die sich genau so verhalten haben, wie ihr Ausbilder: so, als wären sie am liebsten woanders.

Manche werden jetzt sagen: Ja, Beziehungsfähigkeit, Schlüsselqualifikationen wie Verlässlichkeit, Selbstdisziplin etc. - das ist doch, bitteschön, Job der Eltern oder der Schule. Warum sollen wir den Job machen als Unternehmen, den Eltern und Schulen offensichtlich nicht mehr erledigen?

Die Frage ist berechtigt, die Antwort darauf allerdings auch. Sie ist so simpel wie ernüchternd: Weil ihn sonst keiner macht. Unternehmen sind nun mal die letzten in der Kette, die damit klarkommen müssen, was Schulen und Familien zu Verfügung stellen. Sie können lange klagen, sich ärgern oder jammern, ändern wird sich daran nichts. Seit Sokrates ist das so.

Ändern wird sich allerdings dann etwas, wenn Unternehmen bereit sind, anzuerkennen, dass es eine gute und eine schlechte Nachricht gibt.

Zuerst die schlechte:

Nur Sie als Ausbildungsbetrieb sind in der Lage, die Situation zu verbessern.

Jetzt die gute:

Nur sie als Ausbildungsbetrieb sind in der Lage, die Situation zu verbessern.

Der Grund ist einfach: Nirgendwo sonst als bei Ihnen verbringen die Auszubildenden so viel Zeit ihres wachen Daseins. Wo sonst, wenn nicht dort, können Sie lernen, was es bedeutet, wirklich erwachsen zu sein?

Was uns zu einer wichtigen Frage bringt: Was bedeutet denn wirklich erwachsen sein? Ich kann Ihnen versichern, mit dem Führerschein oder mit der gesetzlichen Volljährigkeit oder mit dem Wahlrecht hat das alles rein gar nichts zu tun. Erwachsen sein bedeutet, ganz kurz zusammengefasst: Ich bin in der Lage, zu tun, was ansteht. Jetzt glaube ich, dass viele Ausbilder und Unternehmer das gerne hören: Der Auszubildende soll tun, was ansteht. Also auf gut Schwäbisch: Er soll machen, was man ihm sagt. Das ist ein berechtigter Wunsch, aber er lässt sich gar nicht so leicht umsetzen, wie er gesagt ist. Was bringt uns Menschen dazu, dass wir in der Lage sind, das zu tun, was ansteht, die Aufgabe zu lösen, die jetzt vor uns steht?

Antwort 1:
Wir müssen präsent im Hier und Jetzt sein mit unseren Gedanken, mit unseren Gefühlen, mit unserem Dasein.

Antwort 2:
Ich bin in der Lage, die emotionalen Hindernisse, die diesem Prozess im Weg stehen, aus dem Weg zu schaffen. Dafür gibt es einen im Grunde ganz einfachen Weg: Irgendetwas ärgert mich - ich spreche darüber. Irgendetwas hat mich verletzt - ich spreche darüber. Irgendetwas macht mir Angst - ich spreche darüber.

Erst wenn Auszubildende und übrigens auch Mitarbeiter und übrigens auch Unternehmer in der Lage sind, über das, was sie emotional bewegt, zu sprechen, schaffen sie wieder Raum für die Sachebene, und in Unternehmen geht's dabei in der Regel um Wertschöpfung. Wenn ein Unternehmen erkennt, dass vor der Wertschöpfung die Wertschätzung steht - für den jeweiligen Menschen mit allem, was in ihm gerade vorgeht - erst dann öffnet es sich für Beziehungsfähigkeit, für ganzheitliche Ausbildung.

Was aber bringt Ihnen Beziehungsfähigkeit im Unternehmen? Was haben Sie von ganzheitlicher Ausbildung?

Was bringt Ihnen ein verlässlicher Azubi?
Jetzt mal abgesehen von der Freude darüber, beschert Ihnen ein Azubi, der sich an Absprachen hält, jede Menge Freiraum, beispielsweise weil sie sich jede Menge Kontrolle sparen können.

Was bringt Ihnen ein verbindlicher Azubi?
Abgesehen von der Freude, noch mehr Freiraum, weil Sie nicht mehr so lange warten müssen, bis sie eine klare Antwort von ihm bekommen.

Was bringt Ihnen ein Azubi mit Selbstdisziplin?
Abgesehen von der Freude, wahrscheinlich bessere Leistungen in der Schule.

Was bringt Ihnen ein Azubi mit Präsenz?
Bessere Performance und jede Menge Freude.

Was bringt Ihnen ein mutiger Azubi?
Mut ist ein essenzieller Punkt für Azubis, denn jeder Azubi durchlebt Zustände der Angst. Wir erwarten von unseren Auszubildenden, dass sie über die Grenzen ihrer Bequemlichkeitszone gehen, über das, was sie sich selbst zutrauen. Ohne den Mut, über diese Angst zu gehen, findet schlicht und ergreifend keine Entwicklung statt, weil sie es nicht kann. Es gibt kein Wachstum ohne Angst. Es gibt auch keinen Mut ohne Angst. Jeder Auszubildende durchlebt diese Phasen der Angst, beispielsweise vor der Prüfung. Und jeder Auszubildende braucht Mut, um zu wachsen, um montags größer zu sein als ich sonntags war.

Was bringt Ihnen ein Azubi, der sagen kann, was er braucht?
Das bringt Ihnen eine ganze Menge Klarheit und vermutlich auch jede Menge Zeitgewinn.

Was bringt Ihnen ein begeisterungsfähiger Azubi?
Mehr Loyalität zum Unternehmen.

Was bringt Ihnen ein Azubi, der Nein sagen kann?
Ich geb’s zu: Vermutlich zunächst mal keine allzu große Freude, denn wir sind nicht darauf trainiert, uns über Neins zu freuen. Aber ein Nein bringt Ihnen Klarheit. Und es bringt Ihnen noch etwas: Ein Auszubildender, der es wagt, Nein zu sagen, der die Erlaubnis hat, Nein zu sagen, wird Ihnen und sich selbst mehr vertrauen als einer, der Ja sagt, obwohl er eigentlich Nein meint.

Was bringt Ihnen ein Azubi, der Sie und ihren Betrieb und alles, was das Ausbildungsunternehmen zur Verfügung stellt, wertschätzt?
Ich würde sagen, dieser Auszubildende empfindet tiefe Dankbarkeit und Verbundenheit zu seinem Ausbildungsbetrieb.

Was bringt Ihnen ein Azubi mit Respekt?
Vermutlich die erwünschten Umgangsformen.

Was bringt Ihnen Loyalität?
Loyalität führt in der Regel zu Leistung, die über das gewöhnliche Maß  hinausgeht.

Und was, bitteschön, hat ein Unternehmen von emotional intelligenten Auszubildenden?

Die Antwort liegt nahe: weniger emotionale Störungen, mehr Raum für die Sachebene und damit für die Wertschöpfung. Und vor allem: mehr Miteinander und weniger Gegeneinander.

Zusammengefasst bescheren Ihnen Beziehungsfähigkeit und ganzheitliche Ausbildung:

  • mehr Freiraum
  • bessere Leistungen
  • höhere Performance
  • schnellere Entwicklung
  • Klarheit
  • Loyalität
  • Vertrauen
  • Verbundenheit
  • Bessere Umgangsformen
  • Mehr Raum für die Sachebene
  • Mehr Miteinander

Unternehmen, die in die Beziehungsfähigkeit ihrer Auszubildenden investieren, gewinnen. Zum Beispiel auch an Attraktivität. Sie werden als ganzheitliche Ausbildungsbetriebe geschätzt und anerkannt. Dort lernen Azubis fürs Leben. Das steigert die Verbundenheit zum Unternehmen. Jeder Azubi, der das erlebt, weiß: Dort, im Betrieb, wird mein Potenzial gesehen, dort wird an mich geglaubt, dort wird in mich investiert. Das sind Dinge, die Jugendliche nicht mehr selbstverständlich zu Hause oder in der Schule erleben.

Ärgern Sie sich nicht über diesen Mangel, der Ihnen so viel Unbill beschert, nutzen Sie ihn zum Vorteil ihres Unternehmens. Inzwischen weiß doch beinahe jeder, dass gelebte Wertschätzung lang anhaltender motiviert als jede Gehaltserhöhung. Gerade im ländlichen Raum, wo der Fachkräftemangel geradezu greifbar ist, können Sie sich künftig viele Anstrengungen auf dem bald wöchentlich stattfindenden Berufsinfotagen oder Ausbildungsmessen schenken oder zumindest entspannter damit umgehen, wenn sich draußen herumspricht: Geh zum Unternehmen XY, dort lernst du was fürs Leben. Das spricht sich herum. Da brauchen Sie weniger Banner, weniger T-Shirts.

Unternehmen, die in die Beziehungsfähigkeit ihrer Auszubildenden investieren, bekommen langfristig Führungskräfte, die Beziehungsfähigkeit vorleben, die als Vorbild führen, die Menschen lesen können, die Chancen als Potenzial für Unternehmenserfolg nutzen. So erschaffen Sie ein Unternehmen, das als Ort des persönlichen Wachstums geschätzt wird, ein Unternehmen, das Entwicklung nicht nur fordert, sondern auch fördert, das Innovation vorlebt und damit erfolgreich ist.

Unternehmen wollen wachsen. Menschen auch.

© Matthias Stolla 2016